Das Leben ein Traum
Warum wir nicht Sklaven unserer Gene sind
Ist unser Leben Schicksal? Mythen und antike Tragödien haben diese Frage meist bejaht, und Jahrtausende später schien ihnen die moderne Biologie recht zu geben. Je mehr wir über die Rolle der Gene bei der Entwicklung von Lebewesen lernten, desto zwingender schien der Schluss, dass Gene unseren Körper, unsere Begabungen und unser Verhalten bereits vor der Geburt festlegen und bis zu unserem Tode bestimmen. Erben wir also unser Schicksal?
Künstler und Philosophen haben sich gegen diese Vorstellung immer wieder aufgelehnt – so auch der spanische Dichter Pedro Calderón de la Barca. Sein 1635 uraufgeführtes Versdrama La vida es sueño (Das Leben ein Traum) handelt vom polnischen Königssohn Sigismund, der seine von den Sternen vorausbestimmte Gewalttätigkeit aus eigener Kraft überwindet und sich zum weisen Herrscher wandelt.
Vor einigen Jahrzehnten begannen auch einige Biologen daran zu zweifeln, dass wir Sklaven unserer Gene sind. Warum sind eineiige Zwillinge, die derselben befruchteten Eizelle entstammen und somit die gleichen Gene besitzen, nicht völlig identisch? Warum leidet manchmal nur einer von ihnen an einer Krankheit? Und warum werden sie mit dem Alter immer verschiedener? Zunächst begnügte man sich mit der Erklärung, dass die Umwelt zwar nicht die Gene, wohl aber deren Auswirkungen verändern kann.
Diese Erklärung ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit – und diese ist überraschend und erhebend zugleich: Unsere Gene sind keine unabänderlichen Gesetze, sondern können sich als Antwort auf die Umwelt oder unseren Lebenswandel verändern. Natürlich wussten wir schon lange, dass Umweltgifte, Radioaktivität, Viren oder Fehler bei der Zellteilung die Reihenfolge der vier chemischen Buchstaben in unseren Genen verändern und damit erbliche „Mutationen“ auslösen können. Solche Mutationen sind jedoch sehr selten und treffen ein Gen rein zufällig. Nun aber wissen wir, dass im Verlauf unseres Lebens manche Gene auch durch die chemische Markierung einzelner Buchstaben gehemmt oder abgeschaltet werden können, und dass solche Markierungen sogar erblich sein können.
Das Markierungszeichen ist eine „Methylgruppe“: ein kleines Gebilde aus drei Wasserstoffatomen und einem Kohlenstoffatom, dem Chemiker die Formel -CH3 geben. Wenn sich eine Methylgruppe an einen Genbuchstaben anheftet, lockt sie Proteine an, die den „methylierten“ Genabschnitt umhüllen und damit hemmen oder ganz stilllegen. Im Gegensatz zu klassischen Mutationen verändert eine solche „epigenetische“ Markierung also nicht die Folge, sondern nur den Charakter einzelner Gen-Buchstaben. Verwendet man für die vier verschiedenen Gen-Buchstaben die Alphabet-Buchstaben a, b c und h, dann würde in einer klassischen Mutation das Wort „bach“ vielleicht zu „bbch“, „bcch“ oder „bhch“; in einer epigenetischen Veränderung hingegen zu „bäch“. Teilt sich eine Zelle, kopiert sie die methylierten Buchstaben getreulich und gibt sie an die Gene der Tochterzellen weiter. Wir wissen noch nicht, wie diese Methylierungen ausgelöst und gesteuert werden, können sie jedoch durch eine geeignete Ernährung fördern oder durch ein bestimmtes Antibiotikum teilweise wieder rückgängig machen.
Die Gene einer befruchteten Eizelle sind weitgehend unmethyliert und daher jederzeit bereit, auf Befehl ihre volle Wirkung zu entfalten. Entwickeln sich dann aus dem befruchteten Ei verschiedene Zelltypen, methylieren diese ihre Gene nach einem genauen internen Programm, um zu verhindern, dass Gene zur falschen Zeit oder am falschen Ort aktiv werden und die Entwicklung stören. Diese Methylierungen kommen selbst in einem erwachsenen Menschen nicht zur Ruhe, wobei sie dann aber nicht nur durch zellinterne Programme, sondern auch durch die Lebensgewohnheiten und die Umwelt bestimmt werden. Epigenetische Methylierung von DNS kann also sowohl durch innere als auch durch äussere Faktoren verursacht werden. Und diese äusseren Faktoren sind bunt gemischt: Essgewohnheiten, Drogen, Wechselwirkung mit anderen Menschen – sie alle können ihre Methyl-Spuren in unseren Genen hinterlassen.
In einer normalen Körperzelle verlöschen alle Methyl-Spuren mit dem Tod des Individuums. Auch in einer Ei- oder Samenzelle verschwinden die meisten von ihnen bei Reifung und Befruchtung; manche bleiben jedoch bestehen, sodass das befruchtete Ei einige Erinnerungen an das bewahrt, was vorher war. So kann es Eigenschaften, welche die Eltern im Verlauf ihres Lebens erwarben, an das neue Lebewesen und dessen Nachkommen weitergeben. Der französische Biologe Jean Baptiste Lamarck hatte bereits vor zweihundert Jahren vorgeschlagen, dass erworbene Eigenschaften erblich sein können, doch Charles Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Zuchtwahl drängte Lamarcks Idee bis vor kurzem in den Hintergrund. Die grosse Pragmatikerin Natur kümmert sich jedoch nicht um Theorien und benützt beide Wege, um Lebewesen an ihre Umwelt anzupassen.
Wird eine Pflanze ultraviolettem Licht ausgesetzt, aktiviert sie Reparaturmechanismen, um Strahlenschäden an den Genen wieder auszubügeln. Diese Mechanismen arbeiten dann auch in Abwesenheit von Ultraviolettlicht weiter und bleiben sogar über mehrere Generationen hinweg in den Nachkommen aktiv - selbst wenn diese nie von ultraviolettem Licht bedroht waren. Die Pflanze vermittelt so ihre Erfahrung „epigenetisch“ an die Nachkommen und wappnet sie für kommende Gefahren. Selbst komplexe Verhaltensmuster lassen sich auf diese Weise vererben: Rattenweibchen unterscheiden sich in der Zärtlichkeit, mit der sie ihre frisch geworfenen Jungen säugen. Zärtlich gesäugte Junge sind dann für den Rest ihres Lebens besonders unempfindlich gegenüber Stress, wobei es gleichgültig ist, ob sie von ihrer biologischen Mutter oder von einer Amme gesäugt wurden.
Diese vermittelte Stressresistenz geht mit einer verminderten Methylierung von Genen einher, welche die Wirkung von Stresshormonen im Gehirn steuern. Löscht man Gen-Methylierungen in den Ratten durch Verabreichung eines bestimmten Antibiotikums, verschwinden die Unterschiede zwischen zärtlich und weniger zärtlich gesäugten Ratten. Erhöhte Stressresistenz und Risikobereitschaft scheinen auch bei uns Menschen mit einer erhöhten Methylierung gewisser Gene einherzugehen. Wahrscheinlich spielt auch hier die Beziehung zwischen Mutter und Kind eine wichtige Rolle.
Man sagt, jeder alte Mensch habe das Gesicht, das er verdient. Ähnliches gilt wohl auch für meine Gene. Sie erzählen nicht nur von den Jahrmilliarden des Lebens vor mir, sondern auch von den siebeneinhalb Jahrzehnten meines eigenen Lebens: von der Fürsorge meiner Eltern, der Wärme meiner eigenen Familie, den wissenschaftlichen Kämpfen, den Krankheiten und Enttäuschungen und vielleicht sogar von meinem Bemühen, die Kunst des Violinspiels zu meistern. Auch ich bin dafür verantwortlich, was aus meinen Genen wurde. Es beruhigt mich zu wissen, dass die Natur die meisten meiner Lebensspuren aus ihnen löschte, bevor ich sie meinen Kindern vererbte. So gewährte sie diesen die Freiheit des Neuanfangs.
Ein befruchtetes Ei gleicht einem eingestimmten Orchester, das lautlos auf den Einsatz des Dirigenten wartet. Alles ist noch Versprechen und die Partitur ein Traum, der seiner Erfüllung harrt. Diese Erfüllung bestimmt nicht nur der Dirigent, sondern auch das Umfeld, das die Spielweise der Musiker und den Musikgeschmack der Zeit geprägt hat. Wie viel mehr braucht es, um aus einem befruchteten Ei einen Menschen zu schaffen! Es braucht den Körper der Mutter, die elterliche Fürsorge nach der Geburt und den Einfluss unzähliger anderer Menschen. „Ein Kind wird vom ganzen Dorf erzogen“ weiß ein altes Sprichwort. Erst die Wechselwirkung mit anderen Menschen schenkt dem Kind Sprache, Gemeinschaftssinn und sittliche Verantwortung. Ein befruchtetes menschliches Ei ist ein Traum, der sich nur mit Hilfe vieler anderer erfüllt. Wer unsere Gene als „Bauplan eines Menschen“ oder ein tiefgefrorenes befruchtetes menschliches Ei als „Menschen“ sieht, verleugnet den Genius unserer Spezies und beleidigt mein Menschenbild. Wenn wir ins Leben treten, sind wir nicht Sklaven, sondern Traum unserer Gene. Hat Calderons künstlerische Intuition dies geahnt, als er sein Versdrama schuf?
Anmerkungen der Redaktion:
Über den Autor:
Em. Univ.-Prof. Dr. Gottfried Schatz, geboren 1936, ist einer der bedeutendsten Biochemiker unserer Zeit. Er studierte Chemie und Biochemie an der Universität Graz und forschte an der Universität Wien, am Public Health Reseach Institute New York, an der Cornell University (Ithaca, NY) und am Biozentrum der Universität Basel zum zentralen Thema Mitochondrien. Er war Mitentdecker der mitochondrialen DNA und klärte den Mechanismus des Proteintransports in Mitochondrien auf. Schatz ist Träger vieler hochrangiger Preise und Ehrungen, Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und Vorsitzender bedeutender Organisationen und Gremien. Mit dem Ziel: „Wissenschaft verständlich machen“ betätigt sich Schatz auch als Essayist und Buchautor.
Details: www.science-blog.at/Autoren