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Stimmen der Nacht - Gedanken eines emeritierten Professors über Wissenschaft und Universitäten

Stimmen der Nacht - Gedanken eines emeritierten Professors über Wissenschaft und Universitäten

Genügt es, wenn Professoren nur Fachwissen vermitteln? Sollten sie nicht vielmehr junge Menschen dazu ermuntern, unabhängig zu denken, sich von anerzogenen Vorurteilen zu befreien und Antworten auf die grossen Fragen zu finden - Fragen nach unserem Dasein und dem Wesen der materiellen und geistigen Welt? Gedanken eines Vermittlers von Wissenschaft par excellence, der auch hochkomplexe Zusammenhänge in einfachen, für Laien verständlichen Worten darzustellen vermag.

Gottfried Schatz für den Science-Blog

Seit Jahren bin ich emeritiert - ein Professor im Ruhestand. Ich habe kein Laboratorium, keine Mitarbeiter und keine Forschungsgelder mehr, muss aber auch nicht mehr sinnlose Formulare ausfüllen, Berichte für Schubladen schreiben und an unnötigen Sitzungen mit dem Schlaf kämpfen. Meine Freiheit ist mir noch immer nicht ganz geheuer. Sie macht jeden Tag zu einem Experiment, das Unerwartetes zutage fördern kann - über Wissenschaft, über meinen ehemaligen Beruf oder über mich selbst.

Zwischen Wachen und Träumen

Als frischgebackener Biochemiker war ich fast stets im Laboratorium und arbeitete bis spät in die Nacht - manchmal auch bis in den frühen Morgen. Die Stille des nächtlichen Laboratoriums schenkte meinen Gedanken freien Lauf und mir neue Ideen. Wenn ich jetzt nachts wach liege und meinen Erinnerungen nachgehe, vermisse ich diese Stille, denn die Stimmen der Nacht stören sie mit ihren Fragen. Die Stimmen sind unerbittlich und lassen sich nicht belügen. Ich versuche, ihnen zu widerstehen, doch sie kommen zur Stunde des Wolfs, wenn meine Gedanken im Niemandsland zwischen Wachen und Träumen wandern und meine Verteidigung versagt.

Immer wieder wollen die Stimmen wissen, was Wissenschaft mir gab. Es ist nicht leicht, darauf zu antworten, denn es gibt zu viele Antworten. Ich wollte Wissenschafter werden, um zu erfahren, wie die Welt um mich beschaffen ist. Bald jedoch erkannte ich, dass die wissenschaftliche Wahrheit von heute schon morgen falsch sein kann. Einer meiner Kollegen gestand dies in seiner Festrede für frischgebackene Doktoren mit folgenden Worten: «Wir haben unser Bestes getan, um Ihnen die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft beizubringen. Dennoch ist wahrscheinlich die Hälfte dessen, was wir Sie lehrten, falsch. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, welche Hälfte.» Wissenschaft zeigte mir nicht die endgültige Wahrheit, sondern den Weg, um mich einer Wahrheit zu nähern. Ich erfuhr, dass sie nicht das Sammeln und Ordnen von Tatsachen ist, sondern der Glaube, dass wir die Welt durch Beobachten, Experimentieren und Nachdenken begreifen können. Wissenschaft zeigte mir auch die engen Grenzen des menschlichen Verstandes und lehrte mich Bescheidenheit. Arroganz, Hierarchie und Macht waren stets ihre Todfeinde.

Dennoch konnte mich Wissenschaft nie ganz befriedigen. Das Adagio aus Mahlers Zehnter Sinfonie, Shakespeares Sonette oder Cézannes Visionen des Mont Sainte-Victoire erzählten mir von einem verzauberten Land, das jenseits jeder Wissenschaft liegt. Erst dieses Land schenkte meiner Sicht der Welt einen zweiten Blickwinkel und damit die Dimension der Tiefe.

Und immer wieder die Frage, vor der ich mich fürchte: «Warst du ein guter Wissenschafter?» Nur allzu oft war ich es nicht, denn ich war nicht immer leidenschaftlich, mutig und geduldig genug. Wissenschaftlicher Erfolg entspringt nicht nur aus Intelligenz und Originalität, sondern auch vielen anderen Talenten. Die wichtigsten Voraussetzungen jedoch sind Leidenschaft, Mut und Geduld. Es braucht sie, um allgemein akzeptierte Ideen und Dogmen zu hinterfragen und ein schwieriges wissenschaftliches Problem zu lösen. Und es braucht sie auch, um trotz Fehl- und Rückschlägen ein Ziel über Jahre hindurch unbeirrt zu verfolgen.

Die Waffe der Wissenschaft ist Wissbegierde - doch diese Waffe ist stumpf ohne die Schärfe der Intelligenz. Aber selbst die schärfste Intelligenz ist kraftlos ohne Leidenschaft und Mut - und diese wiederum sind Strohfeuer ohne die Macht der Geduld. Und die Stimmen fragen weiter. «Hast du deinen Studenten und Mitarbeitern geholfen, leidenschaftlich, mutig und geduldig zu sein?» Hier schmerzt die Antwort: «Sicher nicht genug.» Ich glaube nicht, dass Leidenschaft sich lehren lässt, doch Mut und Geduld erstarken im Umgang mit mutigen und geduldigen Menschen. Darum versuchte ich, so gut ich konnte, meinen Mitarbeitern Mut und Geduld vorzuleben, denn persönliche Vorbilder sind für die Entwicklung junger Menschen von überragender Bedeutung. Sie sind die wichtigste Gabe, die eine Universität ihren Studenten geben kann. Wie schade, dass ich dies erst jetzt ganz erkenne.

Wissenschaft und Lehre

Und dann die Frage: «Was würdest du besser machen, wenn du nochmals beginnen könntest?» Hier fällt mir die Antwort leicht: «Ich würde die Lehre mindestens ebenso wichtig nehmen wie die Forschung.» Unter «Lehre» verstehe ich nicht die Aufzählung wissenschaftlicher Tatsachen, sondern die Weitergabe meiner wissenschaftlichen Erfahrungen und meiner persönlichen Ansichten über Wissenschaft, die Welt und uns Menschen. Professoren dürfen nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern müssen junge Menschen dazu ermuntern, unabhängig zu denken, sich von anerzogenen Vorurteilen zu befreien und Antworten auf die grossen Fragen zu finden - Fragen nach unserem Dasein und dem Wesen der materiellen und geistigen Welt.

Alle jungen Menschen suchen Antworten auf diese Fragen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind oder es nicht zugeben wollen. Und wenn unsere Bildungsstätten sie dabei im Stich lassen, werden sie bei Gurus und religiösen Fanatikern Rat suchen. Wie anders lässt es sich erklären, dass so viele Anhänger der berüchtigten Bhagwan-Sekte an den besten Universitäten der USA studiert hatten? Im Rückblick erscheint es mir fast unglaublich, dass Hunderte von begabten jungen Menschen mir bei meinen Vorlesungen über eine Stunde lang zuhörten. Welch einmalige Möglichkeit, diese jungen Menschen zu formen! Doch ich nutzte sie oft zu wenig, weil es mich zurück ins Laboratorium zog. «Was hat dich an der Wissenschaft überrascht?», fragt eine Stimme. Auch hier muss ich nicht lange nach der Antwort suchen. «Ich hatte einsames Forschen erwartet und nicht geahnt, wie sehr die Gemeinschaft mit anderen Wissenschaftern mein Leben prägen und bereichern würde.» Grosse wissenschaftliche Entdeckungen sind meist Kinder der Einsamkeit, werden aber dennoch nicht in Isolation geboren. Wir Wissenschafter arbeiten an einer Kathedrale, deren Vollendung keiner von uns erleben wird. Deshalb zehren wir doppelt von der Gemeinsamkeit unseres Schaffens.

Meine nächtlichen Besucher wollen vieles wissen und verstummen erst im Morgengrauen. Um mich gegen ihre Fragen besser zu wappnen, schreibe ich nun meine Antworten im Schutz des Tages nieder. Es sind Versuche - essais. Michel Eyquem de Montaigne sah seine «Essais» als Versuche, sich selbst zu erforschen. Vielleicht wollte aber auch er nur die Stimmen der Nacht besänftigen.

Anmerkung der Redaktion:

Zum obigen Thema und über dieses hinaus gibt es in der Reihe „Sternstunde Philosophie“ ein rezentes (12.08.2012), großartiges Interview mit Gottfried Schatz: „Das Rätsel unserer Lebensenergie. Über Biochemie, Forschungsintrigen und Wissenschaftspolitik“ (55 min)

Schatz nimmt u.a. darin Stellung zu Themen wie: Arroganz und beschränkte Erkenntniskraft, Wahrheiten und Modelle in der Wissenschaft, Kultur und die Naturwissenschaften, Wissenschaft und Politik und Zukunft der Wissenschaft.

Zahlreiche weitere Artikel von Gottfried Schatz zu wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Themen sind im science-blog erschienen und unter der Rubrik „Einträge nach Autoren“ nachzulesen.

 

Über den Autor

Gottfried Schatz wird hier vorgestellt.