Wie «unsichtbarer Hunger» die Menschheit bedroht
«Unsichtbarer Hunger» nach Vitaminen und anderen Nährstoffen, die wir nur in kleinsten Mengen benötigen, bedroht ein Drittel aller Menschen und tötet jährlich Millionen von Kindern. Verbesserte Nutzpflanzen könnten diesen Hunger lindern, doch Vorurteile und irrationale Ängste verhindern deren Einsatz.
«Fühlt ihr nicht, dass ich nicht beten kann, wenn der Hunger mir die Eingeweide zerreisst, wenn der Magen im Wahnsinn schreit: erst Brot für mich, dann Liebe, dann Geist, dann Wahrheit!» Als Conrad Alberti in seinem 1888 erschienenen Drama «Brot!» diese Worte dem jungen Thoma Münzer in den Mund legte, ahnte er nicht, dass es noch einen anderen Hunger gibt, der zwar nicht «die Eingeweide zerreisst», aber ebenso tötet wie der Hunger nach Brot.
«Hunger nach Brot» ist immer noch die größte Bedrohung der Weltgesundheit – und seine heimtückische Schwester, die Unterernährung, bei Kindern die weitaus häufigste Todesursache. Etwa vierzehn Prozent der Weltbevölkerung sind chronisch unterernährt, doch zum Glück sinkt dieser Prozentsatz stetig; er war noch vor einem Jahrhundert mehrfach höher, ist heute nur halb so hoch wie vor dreißig Jahren – und dürfte in Zukunft noch weiter absinken. Moderne Landwirtschaft und wirtschaftliche Entwicklung haben – allen Zweiflern zum Trotz – ihre Schuldigkeit getan.
Scharlatane und Diät-Gurus
Unser Hungergefühl warnt uns bei ungenügender Zufuhr von Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten, deren sechs «Lebenselemente» Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor und Schwefel unserem Körper als Bausteine und Energiequelle dienen. Um uns am Leben zu erhalten, braucht es jedoch noch weitere Elemente, darunter die «Spurenelemente» Eisen, Zink, Kupfer, Iod, Fluor, Kobalt, Mangan, Molybdän, Selen und Chrom. Schliesslich muss unsere Nahrung auch etwa ein Dutzend verschiedener «Vitamine» enthalten – komplexe organische Stoffe, die unser Körper nicht selber bilden kann. Wenn wir auch Spurenelemente und Vitamine nur in winzigen Mengen benötigen, so sind sie dennoch für Wachstum, Zellatmung, Bildung der Erbsubstanz DNS und viele andere wichtige Prozesse unersetzlich. Wenn sie uns fehlen, warnt uns kein Hungergefühl. Dieser «versteckte Hunger» bedroht mindestens drei Milliarden Menschen, darunter auch viele Bewohner reicher Staaten.
Vielleicht braucht unser Körper auch noch Spuren von Bor, Silizium, Zinn, Vanadium oder Nickel, doch wir sind uns dessen nicht sicher und rätseln noch, welche Aufgaben diese Elemente in unserem Körper erfüllen könnten. Der tägliche Mindestbedarf ist selbst für viele der bereits gesicherten Spurenelemente und Vitamine umstritten, da er sich meist nur schwer genau bestimmen lässt. Ist das in einem Gewebe gemessene Spurenelement tatsächlich biologisch bedeutsam? Wurde es nur zufällig mit der Nahrung aufgenommen? Oder entstammt es gar einer Verunreinigung der Analysengeräte? Kann – oder darf – man gesunden Versuchspersonen über Tage oder Monate ein Spurenelement vorenthalten, um dessen Wirkung zu bestimmen? Die Aufnahme vieler Spurenelemente oder Vitamine hängt zudem stark von anderen Spurenelementen und Vitaminen sowie von der Diät ab, so dass Angaben über den täglichen Mindestbedarf oft nur grobe Schätzungen sind. Kein Wunder, dass sich in diesem Dunst des Unwissens Scharlatane und Diät-Gurus tummeln, die mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, religiösem Eifer und cleverem Geschäftssinn den unnötigen Verzehr oft gefährlicher Mengen an Spurenelementen und Vitaminen predigen.
Tödliche Bedrohung
Für Menschen, die sich vorwiegend von Reis ernähren, ist ein Mangel an Vitaminen und Spurenelementen jedoch eine tödliche Bedrohung. Weltweit darbt jedes dritte Kind an Vitamin A (Abbildung 1) und jeder dritte Mensch – meist Frauen – an Eisen.
Vitamin-A-Mangel lässt die vier Lichtsensoren des Auges verkümmern und das Zusammenspiel lebenswichtiger Gene entgleisen. Als Folge davon erblinden jedes Jahr Hunderttausende von Kindern – und Millionen erkranken oder sterben an Infektionen, weil ihre Immunabwehr geschwächt ist.
Abbildung 1. Vitamin A Mangel - ein massives Gesundheitsproblem in mehr als der Hälfte aller Länder, insbesondere in Afrika and Südost-Asien. Rund 250 Millionen Vorschulkinder leiden an Vitamin A Mangel, jährlich erblinden 250 000 bis 500 000 Kinder, davon stirbt die Hälfte innerhalb eines Jahres (Quelle: WHO [1])
Eisenmangel ist nicht minder bedrohlich; seine Folgen sind Anämie, bleibende Entwicklungsschäden und Anfälligkeit gegenüber Infektionen. Abbildung 2 zeigt die Prävalenz des Eisenmangels bei Vorschulkindern [2].
Abbildung 2. Eisenmangel bei Vorschulkindern - ein globales Problem (Quelle: WHO [2]).
Ein Netz verschiedener Hilfsorganisationen, allen voran die Global Alliance for Vitamin A, verteilt seit Jahren an Kinder in den betroffenen Regionen Vitamin-A-Kapseln und senkte damit die Kindersterblichkeit um ein Viertel. Verteilung und regelmässige Einnahme der Kapseln bereiten jedoch immer wieder Probleme, und so träumten Wissenschafter und Entwicklungshelfer davon, die Versorgung mit Vitamin A und Eisen über die Nahrung sicherzustellen.
Die Erfüllung dieses Traums war jedoch schwieriger als erwartet. Ein Reiskorn enthält fast kein Eisen und nur geringe Spuren von orangefarbigem Karotin, das unser Körper zu Vitamin A umformen kann. Diese Eisen- und Karotinspuren beschränken sich zudem auf die Schale des Reiskorns, die beim Polieren verloren geht. Dennoch würde unpolierter Reis die Versorgung mit Vitamin A und Eisen nicht verbessern, sondern neue Probleme schaffen: Die Reisschale könnte den kindlichen Vitamin-A-Bedarf bei weitem nicht decken, wird bei Lagerung schnell ranzig und enthält zudem Stoffe, welche die Aufnahme von Eisen aus anderen Nahrungsmitteln verhindern. Um Reiskörner an Eisen und Karotin anzureichern, müsste man die Pflanze mit etwa einem halben Dutzend aktiver Gene «aufrüsten», was mit klassischen Züchtungsmethoden kaum möglich wäre.
Um Träume zu erfüllen, braucht es praktisch veranlagte Träumer – wie den Pflanzenforscher Ingo Potrykus, der ab 1987 an der ETH Zürich wirkte. Er träumte von einer neuen Reissorte, deren Körner nicht nur genügend Vitamin-A-Vorstufen, sondern auch genügend Eisen enthalten würden, um den Bedarf eines Kindes zu decken. Schon früh erkannte er, dass sich dieser Traum nur mithilfe der modernen Gentechnologie verwirklichen ließe. Zusammen mit seinem Kollegen Peter Beyer und vielen Mitarbeitern aus der ganzen Welt gelang es ihm in mehr als einem Jahrzehnt harter Arbeit, den Karotingehalt von poliertem Reis beträchtlich zu steigern. Es war ein steiniger Weg voller Rückschläge, doch eines Tages konnten die Forscher ihren Kollegen stolz Reiskörner zeigen, die dank ihrem hohen Karotingehalt goldig schimmerten: der «Goldene Reis» war geboren (Abbildung 3). Eine Tasse davon genügte, um zusammen mit der ortsüblichen Nahrung den kindlichen Tagesbedarf an Vitamin A zu decken.
Abbildung 3: Goldener Reis (rechts). Im Korn des goldenen Reis’ (nicht aber im normalen Reis – links) wird das gelbe beta-Carotin (Provitamin A) gebildet, das nach der Aufnahme in den menschlichen Organismus zu Vitamin A (Retinol) umgewandelt wird. Aus Retinol entstehen das für den Sehvorgang essentielle Retinal und Retinsäure, ein für Wachstum und Entwicklung unabdingberes Hormon. (Bild: Wikipedia).
Mit Hilfe erfahrener Patentanwälte sorgten dann Potrykus und seine Mitstreiter auch dafür, dass alle notwendigen Lizenzen und Verwendungsrechte frei für humanitäre Zwecke verfügbar waren. Reisbauern werden den «Goldenen Reis» meist als Einkreuzung in lokale Reissorten von staatlichen Reis-Institutionen beziehen, auf gleiche Weise wie herkömmlichen Reis anbauen und – unabhängig von Saatgutfirmen – mit den Körnern einer Ernte die nächste säen können. Untersuchungen staatlicher Bewilligungsgremien konnten bisher keine gesundheitlichen Nachteile dieser neuen Reissorte finden. In den letzten Jahren entwickelten Potrykus und seine Mitarbeiter überdies noch eine eisenreiche Reissorte, die nach herkömmlicher Kreuzung mit «Goldenem Reis» den «unsichtbaren Hunger» nach Vitamin A und Eisen gleichzeitig stillen könnte.
Hunger ist oft auch eine Folge von Naturkatastrophen, Unterdrückung und Krieg. Wenn auch Wissenschaft und Technologie allein ihn deshalb nie bezwingen werden, so liefern sie uns dennoch dazu wirksame Waffen – wie den «Goldenen Reis». Dieser wurde vorwiegend mit öffentlichen Geldern entwickelt, stieß aber sofort auf die erbitterte Ablehnung jener, die «genetisch veränderten» Pflanzen den Krieg erklärt hatten. Auch diese Aktivisten wollen Hunger bekämpfen, doch ihre Argumente können mich nicht überzeugen.
«Schwachmütiges Mitleid»
Laut ihnen ist «Goldener Reis» ein «trojanisches Pferd», das gentechnisch veränderten Pflanzen die Märkte erschliessen soll. Ähnliches wurde einst auch vom ersten gentechnisch erzeugten Insulin behauptet – bis dann eine breite Palette lebensrettender gentechnischer Produkte diesen Vorwurf verstummen liess. Das Einschleusen fremder Gene, so ein weiteres Argument, habe das Erbgut von Reis nach «Jahrmilliarden der Ruhe plötzlich gestört», was nicht nur die Umwelt, sondern auch die Gesundheit Reis essender Menschen gefährde. Dieser Einwand übersieht, dass traditionelle Pflanzenzüchter seit Jahrtausenden ungezählte Gene unkontrolliert von einer Pflanze in eine andere einkreuzen – und dass in den fast vier Milliarden Jahren der Evolution Gene unablässig zwischen verschiedenen Lebensformen hin und her sprangen. Dennoch ist der Einsatz von «Goldenem Reis» seit zehn Jahren blockiert.
Wie schade, dass man nicht auf die Stimmen der Mütter hörte, deren Kinder an Vitamin-A-Mangel starben. Mitleid mit den Hungernden dieser Welt ist grausam, wenn es diesen nicht mit allen verfügbaren Mitteln helfen will. – «Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mitleiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens vor der eigenen Seele.» Hat Stefan Zweig die Zukunft gesehen, als er 1938 diese mahnenden Worte fand?
Einzelnachweise und Quellen:
[1] WHO: Vitamin A deficiency
[2] WHO: Summary tables and maps on worldwide prevalence of anaemia
Anmerkungen der Redaktion
Weiterführende links:
Golden Rice and Vitamin A Deficiency
GoldenRice full 1.mov (14,2 min)
Der Autor
Gottfried Schatz wird hier vorgestellt.