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Zusammenhalt oder Zerfall?
Leo Dorner
 

Zusammenhalt oder Zerfall?

Die aktuellen Untergangsprediger der politischen Gegenwart befürchten und beklagen im Voraus das Auseinanderbrechen der Demokratien des "Westens" (fast schon ein Fremdwort). Dagegen klären uns Philosophen darüber auf, was die Demokratien in Zeiten der Polykrise noch zusammenhält. (Wie soeben Ottfried Höffe: "Was die Demokratien in Zeiten der Polykrise noch zusammenhält",  NZZ am 2.9.2024)

Zwar möchte der Kant-versierte Philosoph nicht "die enormen Schwierigkeiten" leugnen, die wegen der sich häufenden Krisen zu bewältigen sind, und in flinker Reihe werden "Finanz-, Covid- und die schon lange bestehenden Flüchtlings- sowie Umwelt- und Klimakrise" aufgezählt. Aber von einem Auseinanderbrechen sei keine Spur zu bemerken, weil die "Kräfte von Demokratie und Rechtsstaat, sozialer Marktwirtschaft sowie gelebten Bürgertugenden wie Toleranz und Kompromissbereitschaft" zusammenhalten und an ihrem Grundcharakter als rechtsstaatliche Demokratie festhalten.

Somit hören die Untergangsbefürchter das falsche Gras wachsen, und ihr Defaitismus ist das Papier nicht wert, auf dem ihre Verfallszenarien geschrieben stehen. Allerdings sei es mittlerweile, angesichts der vielen auseinanderstrebenden Fliehkräfte, bereits "als ein Wunder zu bezeichnen", dass "unsere Gesellschaften nicht auseinanderbrechen".

Wir notieren als erste Grundthese: Solange die "Grundkräfte" und deren Normen halten und zusammenhalten, ist alles Gerede von einem Auseinanderbrechen nichts als böswilliger Defaitismus, der einen Untergang herbeiwünscht und dabei vergisst, dass ihn ein "Untergang" gleichfalls verschlingen wird. Das Untergangsdenken bleibe an äußeren Erscheinungen hängen und sei noch nicht in die Tiefe der tragenden Prinzipien der modernen Gesellschaft vorgedrungen.

Dagegen wenden andersdenkende Philosophen bekanntlich ein, dass sich das Normensystem der modernen Demokratie gerade in letzter Zeit enorm verändert und zu neuen Normen geführt hat, deren Folgen für die Zukunft heute noch nicht im Entferntesten absehbar sind. Aber vielleicht übertreiben die Andersdenkenden, und wo sie Schatten und Abgründe sehen, werden bald schon neue Lichter leuchten und neue Früchte, samt neuen Geschlechtern auf neuen Gründen wachsen und blühen. 

Mahnend erinnert uns der Philosoph: Wer immerfort nur auf die wachsenden Krisen und Fliehkräfte starre, wie das Kaninchen auf die anschleichende Schlange, der übersieht, dass den pluralistischen Hang zur Vervielfältigung jeder schon erreichten Vielfalt ein demokratieeigener Gegenhang zu Kompromiss und Konsens begleitet.

Weshalb Soziologen und Politologen zuallererst daran interessiert sein sollten zu erkennen, wie die moderne Kultur und Gesellschaft die jeweils neuen Fliehkräfte stets wieder bändige. 

Säkularisierung als Vernunftoffenbarung und Heilsversprechen

Und da sich die moderne Demokratie ursächlich einer "Säkularisierung" verdanke, die Religion und Politik, Staat und Kirche(n) getrennt habe und eine "Vielfalt von politischen, religiösen, aber auch areligiösen und antireligiösen Anschauungen und Lebensstilen" erlaube, sei diese selbe Quelle auch der Garant dafür, dass sich das Potential der "sozialen Bindekraft" als stets wieder stärker erweise als die Phalanx aller Gegenkräfte.

Womit zunächst verschwiegen wird, dass einzig das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung eine nicht-anarchische Vielfalt und nicht-chaotische Dauer-Pluralisierung ermöglicht(e). Wie an der "Säkularisierung" durch moderne Diktaturen und Massenideologien im 20. Jahrhunderts deutlich erkennbar wurde. Diese konnten das Anarchische freigesetzter Säkularisierung zwar gleichfalls verhindern, jedoch durch einen scheinbaren Rückgriff auf vormoderne monolithische Regierungsprinzipien: Diktaturen als neue Monarchien. Ein Rückgriff als Fehlgriff, der Europa zwei und mehr hochverehrte Götzen als Nachfolger der gottbegnadeten Monarchen bescherte, denen Millionen Menschen in den nach Blut dürstenden Rachen liefen.

Dass die Vielfalt der Anschauungen und Lebensstile nicht so harmlos ist, wie sie den meisten Journalisten und Experten erscheint, beginnt sich mittlerweile herumzusprechen.

Stoßen viele (sehr) verschiedene Freiheiten aneinander, ist das Freiheitsgedränge groß, und ein permanenter "Traffic Jam" nur vermeidbar, wenn Toleranzregeln als System normierter Rechte festgeschrieben und in der sozialen Realität auch befolgt werden.  

Auf diesen "qualifizierten Pluralismus" könne die moderne Demokratie zu Recht stolz sein, erinnert uns der mahnende Philosoph. Besseres sei in der ganzen übrigen politischen Welt noch nicht entdeckt worden, lesen wir mit zustimmender Freude.  

Die überragende soziale Bindekraft des "qualifizierten Pluralismus" erweise sich als Paradies "eigener Ziele und Interessen", denen zu leben und zu folgen, die Rechtsordnung jene Steigbügel gewährt, ohne die das hohe Ross der Freiheit nicht bestiegen und nicht geritten werden kann. Die heute noch nicht vergessenen Konflikte der vorpluralistischen Epochen, in denen man mit Degen und Säbel losreiten musste, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, sind für immer vorbei.

Jetzt reitet jedes Pferd mit gleichberechtigten Rechten los – ein Paradies, das Fürsten und Kirchen durch lange Jahrhunderte zu verhindern wussten. 

Kreisläufe der Demokratie und gewaltlose Gewalt

Auch das politologische Code-Wort "Öffentliche Gewalt" hat für das philosophische Konsens-Argumentieren nichts von seiner "magischen" Anziehungskraft eingebüßt: Diese merkwürdig gewaltlose, weil öffentliche Gewalt gehe nunmehr vom Volk aus und kehre in und für das Volk wieder zurück. Ein Kreislauf, der Ludwig XVI. noch heute als Ankunft des himmlischen Steins der Weisen mitten in Paris erscheinen würde, wenn sich die Geschichte nur mehr Zeit gelassen und weniger revolutionäre Verbrechen zugelassen hätte.

Im Zentrum des rotierenden Demokratie-Kreislaufs stehen somit Wahlen, in denen das Volk jene Regierenden wählt, von denen es regiert werden möchte.

Warum das demokratische Wahlmärchen an dieser Stelle stets wieder von einem heftigen Schluckauf niedergeworfen wird, ist bekannt. Nach jedem Wahlkampf beginnt erst der eigentliche Kampf der gewählten Parteien um ein Regierungsprogramm, das wenigstens eine Legislaturperiode überleben soll.

Doch dieser "Hick-Hack-Umstand" regierungsfähiger Demokratien sei kein Grund, einen schlafenden Zweifel zu wecken: denn unzweifelhaft praktizieren bereits demokratische Wahlen einen sichtbaren "gesellschaftlichen Zusammenhalt", um den uns alle (übrige) Welt beneidet.

In der Tat: "gewaltlose Gewalt" ziert die Kultur und Gesellschaft der modernen Demokratien, ein Grundsatz, der schon in der Bibel als Ideal genannt wird, und daher zu verbürgen scheint, dass auch die säkulare Kultur des Westens unüberwindbar fest auf einem Erdboden steht, der vielleicht doch des Gottes Eigentum ist. Obwohl nun nicht mehr von Gottes Gnaden, sondern nur noch vom Ermessen gewählter Mehrheiten das Wohl und Wehe der Zukunft abhängt.

Doch reichen die Kräfte des Zusammenhalts noch tiefer und weit über einen "qualifizierten Pluralismus" hinaus, erinnert uns die philosophische Mahnung für Zusammenhalt und Konsens.

Seit Einführung des Rechtsstaates sitzen nämlich – bildlich gesprochen - Gesetze auf den Thronen der Macht und nicht mehr mächtige Personen und Menschen, die stets durch Willkür und Unberechenbarkeit gefährlich werden können, wie die Geschichte der Monarchien in Europa zur Genüge bewiesen hat.

Sind aber die Mächtigen demokratisch entthront und (fast) jederzeit entthrohnbar, sind auch die Völker und deren Parteien mit einer neuen "Bereitschaft zum gewaltfreien Zusammenleben" gesegnet. Das Wunder der gewaltausgleichenden Gesetze schaffe neuen Frieden auf Erden, zwar noch nicht den von Kant gewünschten und gesuchten Ewigen Frieden, aber immerhin eine Vorstufe dazu auf dem einzig möglichen Weg in die Zukunft der Menschheit. 

Da alle Menschen vor dem Geist des Gesetzes in allen Gesetzen gleich sind, sind weder Ungleichheiten von Geburt und Reichtum, von Stand und Klasse, von Charismen und auserwählten Berufungen politischer Natur restaurierbar. Folglich ist keine Rückkehr in vormoderne und vordemokratische Gesellschaften möglich. Auch Gottesstaaten und Kalifate scheinen nicht mehr nach Europa zurückkehren zu können. 

Promikulte und demokratische Grundtugenden

Religiöse wie künstlerische Berufungen folgen ihren eigenen Selektionsregeln, müssen sich aber dem behördlich organisierten Rechtsrahmen fügen. Hühner auf offener Theaterbühne zu schlachten, um irgendeine "kritische" oder polit-ästhetische Idee zu veranschaulichen ist Anathema. Auch Teufelsaustreibungen vor Kirchen-Altären durch Selbstgeißelungen überzeugter Sünder würden vermutlich Anzeigen und Polizeiauftritte nach sich ziehen.

Vom gesetzlichen Rechtsrahmen entlasten lediglich die als Ausnahme zugelassenen vielfältigen Promikulte im Spektrum der Unterhaltungs-, Sport- und sonstigen Kulturen. Ein entlastendes Ventil, das den Fangemeinden der zahllosen Promis erlaubt, ihre kompromisslose Anhängerschaft auszuleben. Über die Geschmäcker des Geschmacks wird nicht gestritten. DJ Ötzi für die einen, Welser-Möst für die anderen, subversive Jelinek-Dichtung für die einen, minutenkurze Wurm-Skulpturen für die anderen. 

Das rechtliche Kohäsionspotential, verständlicher: Der rechtlich begründete soziale Klebestoff, der die verschiedensten Freiheiten der pluralistischen Demokratie nicht auseinanderfallen lässt, sei ein System demokratischer Grundtugenden, die zwei Merkmale auszeichnen: (a) "Intensive öffentliche Debatten über die jeweils anstehenden Probleme" und (b) die Fähigkeit, mitten "in der Konkurrenz der unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen zu tragfähigen Kompromissen zu gelangen."  Tugenden, die offensichtlich voraussetzen, dass niemals eine Demokratie möglich sein wird, in der die Interessen und Überzeugungen einer Partei von vorneherein als unerlaubt und "unrechtmäßig" ausgegrenzt und verfemt werden. Offensichtlich ein Sündenfall von Demokratie, den sich auch ein Kant-versierter Philosoph nicht als Streitstoff entgehen lassen sollte.

Schon um die Frage zu erörtern, durch welches Recht und welche politische Prozedur amtierende Politiker in extremen Notlagen verpflichtet sind, den Notstand auszurufen. 2015 und Merkels "alternativloses" Gutdünken nicht nur in der Massenmigrationsfrage waren ein Menetekel für das gesamte EU-Europa. Dessen dekretierender Imperativ forderte: keine Diskussionen über strittige Fragen entstehen lassen und alle alternativlosen Entscheidungen durch heilige und pseudoheilige Mächte segnen lassen. Überzeugt von ihrem Erfolg schüttelten sich von Papst und Clooney ihre reingewaschenen Hände.

Und Menschentauschhandelspakte mit Erdogan sowie Migrationspakte ("rechtlich unverbindlich") mit einer windschief gewordenen UNO zwischen New York und Genf besiegelten die "freiwillige" Aufstellung des trojanischen Pferdes mitten in der westlichen Welt. 

Wohlstand für alle und für alle anderen

Weiters sei die westliche Marktwirtschaft ein krisenfester Konsens- und Sicherheitsfaktor, der sich gegen alle "sozialistischen Ordnungen" als überlegene Wirtschaftsform durchgesetzt habe. Das Prinzip von Angebot und Nachfrage, von Innovation, Leistung und Wettbewerb bürge für Erfolg gegen alle kommunistischen und gottesstaatlichen Gegenmodelle.

Es schaffe Wohlstand für alle und finanziere über "erhebliche Steueraufkommen" alle (ständig wachsenden) Verpflichtungen des modernen Sozialstaates.

Ob auch dieser Erfolg mittlerweile bereits "an ein Wunder grenzt" und ob der von EU-Regierung und Parlament verordnete Green-Deal nicht zu einer wirtschaftsvernichtenden Deindustrialisierung Europas führen könnte, sollte gleichfalls als philosophiewürdige Frage erörtert werden. Auch wenn sie heute noch jenseits des Tellerrands aller beschwörenden Konsens-Argumente zu liegen scheint.

Eine Daueralimentierung eines Millionenheeres von "Zugewanderten" ohne funktionierendes Wirtschaftsleben und ohne zahlungskräftigen Sozialstaat kann nicht einmal das "Wunder" ständig neuer "Sondervermögen" herbeizaubern. 

Brennpunktschulen unter fliegenden Messern

Doch um die Geister des Zusammenhalts gegen die drohenden Ungeister des Zerfalls zu beschwören, erinnert der zuversichtliche Philosoph an eine weitere Errungenschaft der modernen Demokratie: Das "öffentliche Bildungswesen" sei ein unverlierbarer Garant des Fortbestehens freier Demokratien.

Denn wo sonst könnten Kinder die lebensnahen Wege des außerfamiliären Miteinanderlebens praktizieren lernen, wenn nicht in der Schule aller Schultypen? Ein verpflichtendes Bildungswesen als Prachterbe von Aufklärung und Philosophie (als diese noch in der Mitte der Universität als denk- und wortmächtige Stimme der Vernunft agierte) sollte allerdings, "schon nur" unseren Kindern zuliebe, als "glänzendes Modernisierungsphänomen" erhalten bleiben.

Nun ist aber Tarnwort "Brennpunktschulen" auch am Ohr unserer konsenskräftigen Philosophen nicht spurlos vorübergegangen. Man wisse, dass sich der Pluralismus der Gesellschaft in der Schülerschaft abbildet, und dass ein multikultureller Pluralismus das Potential für Unfrieden und Unsicherheit um einen hohen Faktor steigert. 

Globaler Kesseldampf in jeder Schulklasse, weil "Punkte", die "brennen", Luft und Atmen verschlagen? Mag sein und mag geschehen, aber alles Klagen und Jammern hilft nichts, das moralische Konsens- und Toleranzprinzip sei "einwandfrei" (ein Wort mit einem logischen Loch auf seiner breiten Brust) moralisch überlegen – folglich ohne Alternative.

Das Missliche vieler philosophischer Grundbegriffe (denen die Aufklärung Europas sozusagen alles verdankt) ist bekannt: Begeben sie sich ins Getümmel neuer Realitäten, begegnen sie bevorzugt sich selbst, weil sich gute Bekannte unter fremd denkenden und sprechenden Gästen sofort "wie zuhause" verstehen. Daher gelingt es ihnen, noch unter fliegenden Messern blitzschnell wegzutauchen, um in der letzten Stuhlreihe der Klasse als visionäre Toleranzprediger wieder aufzutauchen. Wo sonst, wenn nicht in der Hitze neuer Realitäten bewähren sich kühle Vernunftprinzipien?

Im vollmundigen Seminar-Ton wird erklärt, dass Toleranz nicht Gleichgültigkeit gegen andere Lebensformen und Ansichten sei, sondern ein intensiver "Austausch" mit dem Fremden und Anderen: Wer dieses nicht als Zumutung erfahre und mitten in der Zumutung "aushalte", der brauche die Eichwaage der Toleranz erst gar nicht zu besteigen. Nur "guten Lehrern" gelinge daher in den multikulturellen Schulen das halbe oder ganze Wunder, "offene" Schüler heranzubilden, die sich der "freien Anerkennung" des Fremden befleißigen; und nur den "begnadeten Lehrern" bleibe das Kunststück vorbehalten, die Toleranz auch noch zur sozialen Neugier auf das Andere hochzusteigen, im besten aller Fälle bis zur "sozialen Neugier auf das sogar provokativ andere".

An diesem Punkt der akademischen Visionen (man jongliert mit Begriffen wie mit Billardkugeln), wird dann meist die Notbremse gezogen: Bei aller Liebe zur Toleranz bleibe ein Punkt unwiderruflich geboten: Toleranz dürfe nicht "naiv" gehandhabt werden, gegen Intoleranz helfe keine Toleranz.

Das Missliche des Philosophierens aus der geschützten Distanz des Hörensagens ist bekannt: Ein realer Schützengraben als brutales Mittel in Krieg und Bürgerkrieg wird mit einem Graben voller Jägerschützen verwechselt.

Die altbewährte Theorie der Friedenstoleranz und die neue Praxis des Brennpunktlebens (nicht nur in den Schulen) trennt ein Abgrund. 

Wenn es dem philosophischen Toleranzargumentieren im brennenden öffentlichen Bildungssystem allzu mulmig wird, pflegt es in die Klassen der außerschulischen und schon älteren Bürger zu wechseln, in die edle Klasse der Ehrenamtlichen und in die Vielfalt der Vereine, denen anzugehören, sich fast 40 Prozent der Bevölkerung als soziale Ehre zurechnen.

Womit bewiesen sei, dass der moderne Mensch keinesfalls jenes bindungslose Wesen und asoziale Unikum sei, wie immer behauptet wird. Und um dieses schon klassische Ablenkungsargument zu vollenden, folgen die üblichen statistischen Hochwerte für soziales Engagement auf allen Ebenen der Gesellschaft. 

Als sei ein System der Nothelfer als "freiberuflicher" Dauerhelfer zu installieren, um vielleicht noch zu retten, was vielleicht noch zu retten ist.

Philosophie und Politik

Die Schwierigkeiten der Philosophie mit der jeweils aktuellen Politik sind seit Platon und Aristoteles notorisch und chronisch: Platons Versuch, in der Politik neuen Wind zu erzeugen, hätte ihm fast das Leben und Sterben eines Sklaven in Silbergruben von Syrakus beschert. 

Und Aristoteles enthielt sich jeder Äußerung zum Zusammenbuch der Polis Athens nach der Machtübernahme durch die Makedonen in der Folge von Chaironeia (338), obwohl er einer der besten Kenner des politischen und sozialen Lebens der hellenischen Stadtstaaten war.

Warum Philosophen lieber das soziale Zusammenleben in den Staaten als die Kämpfe der politischen Parteien und führenden Parteiköpfe in denselben Staaten betrachten, ist verständlich. Jenes ist relativ stabil, verglichen mit diesen Kämpfen: Das Personal von Post, Bahn und Polizei, von Schulen, Behörden und Krankenhäusern mag fluktuieren, aber "irgendwie geht es immer weiter". Man könnte deren Veränderungen mit dem wechselnden Laut-Pegel des Windrauschens im Wald der Bäume vergleichen. Der Sand im Getriebe der Behörden wird nach und nach wie von selbst zermalmt.

Aber politische Veränderungen "in politics" lassen Stürme zusammenbrauen, die das staatliche Ganze, im dem allein alle Behörden existenzfähig sind, mit Absturz und Umsturz bedrohen.

Die Mühlen der Politik zermalmen spontan und unberechenbar, geraten oft außer Kontrolle, und über das "Wie soll es nun weitergehen?", wenn bislang "freie Plätze und Straßen" erzittern, lassen sich gescheiterte Politiker nicht mehr gerne befragen, abwimmelnde Antworten bleiben ihr letztes Wort.   

Aber es gibt einen noch tieferen Grund für die philosophische Trostperspektive auf die jeweilige Gegenwart. Eigentlich und wirklich erkennbar sei ohnehin nur das Ewige und Vernünftige, alles andere ist entweder dem Wechsel der sinnlichen und geschichtlich dauerveränderlichen Welt unterworfen oder dem Glauben der Religionsgemeinschaften obliegend. 

So sitzt der Philosoph zwischen allen (Macht-)Stühlen dieser Welt, und hat auch seinen Anspruch auf einen himmlischen Stuhl verwirkt. Und dennoch wollten und konnten Platon, Aristoteles und deren würdige Nachfolger bis heute nicht davon ablassen, auf dem Königsweg des Lebens denkender Menschen weiterzugehen. Seinen "Bios theoretikos" wollte sich Aristoteles noch auf seinem Fluchtweg durch die feindlichen hellenischen Staaten nicht nehmen lassen.

 

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.