Wir brauchen dringend ein gemeinsames Fundament für unsere Gesellschaft
Am 1. Mai 2023 hat der obdachlose New Yorker Jordan Neely in einem U-Bahnwagon während der Fahrt seine Jacke auf den Boden geworfen und begonnen, andere Passagiere zu bedrohen und zu attackieren. Zeugenaussagen ergeben ein Bild, dass Neely wild gestikulierend Todesdrohungen ausgestoßen habe und meinte, er fürchte sich nicht vor Konsequenzen.
Am 4. Dezember dieses Jahres wurde Brian Thompson, der Chef eines US-amerikanischen Versicherungskonzerns, am frühen Abend mitten in Manhattan erschossen. Der Täter wartete auf Thompson und traf ihn dann mit Schüssen aus seiner schallgedämpften Handfeuerwaffe zweimal in den Rücken und einmal in das Bein. Etwa 15 Minuten später erlag Thompson im Spital seinen schweren Verletzungen. Fünf Tage danach nahm die Polizei Luigi Mangione in Pennsylvania als dringend tatverdächtig fest.
Zwei sehr traurige Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben oder haben sollten. Im Fall des Obdachlosen ist vor Kurzem der Ex-Soldat vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen worden, eine Anklage wegen Totschlags wurde schon zuvor abgewiesen. Gegen den Pistolenmörder wird zur Stunde noch ermittelt. Gemeinsam haben die beiden Ereignisse nun die verquere, ja geradezu auf den Kopf gestellte Reaktion einer breiten, jedenfalls aber sehr lauten Öffentlichkeit in den USA, die auch schon Europa erreicht hat.
Am Tage des Urteils von Penny etwa »demonstrierten« hunderte Menschen vor dem Gericht gegen diesen »Freispruch eines rassistischen Mörders« und brachten ihre Verachtung gegen »ein System« zum Ausdruck, das »arme und schwarze Menschen töten« würde. Das ist natürlich fataler Humbug. Wäre ich in diesem Waggon gewesen, ich hätte wohl ausschließlich Dankbarkeit für diesen couragierten jungen Mann empfunden, der mir in letzter Konsequenz vielleicht sogar das Leben gerettet hätte. Und im Fall des heimtückischen Mords in Manhattan gehen die »öffentlichen« Reaktionen mittlerweile sogar so weit, dass der mutmaßliche Täter Luigi Mangione als eine Art Robin Hood verehrt und damit sein verbrecherisches Tun moralisch gerechtfertigt wird.
In vielen deutschen Medien habe ich kurz über den Mord gelesen, mehr Platz wird dabei der »dramatischen Situation« der Krankenversicherung in den Vereinigten Staaten eingeräumt, und zwischen all den Zeilen über dieses marode und ausbeuterische System, lässt sich dann viel an Verständnis für diesen »Mord« mitlesen, der beinahe zur »Notwehr gegen den Kapitalismus« umgedeutet wird. Journalisten, die für den öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk arbeiten oder für »Zeit« und »FAZ« schreiben, erdreisten sich tatsächlich, zwar festzuhalten, dass »Selbstjustiz abzulehnen sei«, aber befassen sich im nächsten Gedanken mit der Idee, die Todesstrafe wieder einzuführen. Natürlich nur für Superreiche. Und offenbar Versicherungsmanager bzw. alle erfolgreichen Geschäftsleute, die aus bescheidener Journalistensicht »menschenverachtend agieren«.
Was ist das für eine kranke Denke! Es gibt keine gemeinsame Basis mehr, die zumindest die meisten gesellschaftlichen Schichten als unumstritten, als allumfassend geltend akzeptieren. Jemand, der einen ganzen U-Bahnwaggon vor einem Bedroher beschützt, ist kein rassistischer Mörder, so traurig das Ableben von Jordan Neely ist. Aber jemand, der einen anderen Menschen hinterrücks erschießt, ist ein Mörder. Und sonst gar nichts. Wer aus einer solchen Untat heraus »radikale Gedankenexperimente« – so haben die Journalisten ihre Todesstrafenidee zu verharmlosen versucht – anstellt, hat nicht alle Tassen im Schrank. Eine solche fundamentlose »liberale« Gesellschaft schreit geradezu nach ihrem Untergang.
Christian Klepej ist Unternehmer und gibt in Graz das Monatsmagazin Fazit heraus. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Hirschegg-Pack und Graz.