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Das Denken: Ende oder Anfang der Philosophie?
Leo Dorner
 

Das Denken: Ende oder Anfang der Philosophie?

Fragen wir einen Sänger, was Singen ist, wird er uns antworten: ausprobieren, nicht darüber studieren. Fragen wir einen Menschen, was Denken ist, wird er uns mit seiner Antwort noch tiefer beschämen:  Es ist das, was Du alle Tage die allermeiste Zeit tust und ausführst. Solltest Du aber dein denkendes Tun noch nicht bemerkt haben, wäre ein willkommener Anlass gegeben, mit dem Ausprobieren zu beginnen.

Aber das Denken verfügt nicht nur über eine allgegenwärtige Alltags-Quelle, auch die höheren kulturellen Tätigkeiten pflegen das Denken für sich zu reklamieren, "als ausgezeichnete Fähigkeit des Menschen, die ihn zu Wissen und Wissenschaft befähigt", und überdies zu allen seinen moralischen und sonstigen Entscheidungen. Und manche "höheren Kulturmenschen" versteigen sich sogar zur Behauptung, im Denkvermögen des Menschen sei dessen "ganze Würde" beschlossen. [Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010. Stichwort "Denken" Bd. I. Sp. 377 ff.] 

Dagegen erfolgen die religiösen Basis-Entscheidungen bekanntlich nicht primär durch erkennendes Denken als vielmehr durch religiöse Erziehung: Noch im 20. Jahrhundert galt, wenn auch schwindend: In seine Religion wird man hineingeboren, jeder Mensch in die seiner Eltern bzw. seiner Familie. Dass diese religionssoziologische Tatsachenwahrheit immer mehr verschwindet, ist bekannt, weniger, dass sie mit der Frage nach den Gründen und Abgründen des menschlichen Denkvermögens intrinsisch zusammenhängt.

Im alltäglichen Verständnis bedeutet "Denken" geradezu alles, worin sich Gedanken betätigen und auffinden lassen. Und in den Wissenschaften, Künsten und Religionen bedeutet Denken alles, was in diesen Inhaltswelten benötigt wird, um dieselben als Inhalte miterschaffen, erkennen und mitteilen zu können.

Nun ist aber das Denken über die Inhalte dieser Welt(en) noch nicht das Denken selbst. Doch gerade auf dieses Denken scheint die Frage zielen: "Was ist Denken"? Wurde sie überhört oder als eine entweder unwesentliche oder unbeantwortbare Frage beiseitegeschoben?

Ein zeitgeistaktueller Grund könnte das kollektive Beiseiteschieben erklären: Die Überzeugung nämlich, dass in den Fragen nach den Gründen und Ursachen des Denkens neuerdings allein die Gehirnforschung zuständig sei. Weil jedoch die Resultate dieser Forschung kompliziert und möglicherweise noch nicht so weit gediehen sind, um die Frage "Was ist Denken?" verbindlich beantworten können, halten sich die Kenner und Liebhaber dieser Wissenschaft meistens bedeckt, wenn sie die Antworten und Auskünfte der Gehirnforscher-Communities öffentlich kommentieren.

(1) Die Jahrhundertgeburt einer neuen Philosophie

In dieser Zwickmühle zwischen Skylla und Charybdis: a) "Denken" ist (vielleicht) "etwas Eigenes" und b) "Denken ist alles, aber immer etwas anderes", weil wir in jedem Sektor dieser Welt jeden Inhalt nur diesem gemäß denken können, scheint sich ein leicht begehbarer Ausweg anzubieten: Wir versuchen ("versuchsweise") das Sprechen ganz nur von der Sprache her und das Handeln ganz nur vom Handeln her zu denken und zu definieren. Und alle Anbiederungen eines philosophischen Denkens, das sich mit eigenen allgemeinen Denkkategorien in die Sachinhalte dieser Welt einmischen möchte, werden entweder ignoriert oder in einem Sonderbehälter (neuerdings: Datenbank) mit Verdacht auf "metaphysischer Abfall" gesammelt. Jetzt schlägt die Stunde einer neuen Philosophie und einer unübersehbaren Vielfalt von Wissenschaften. Alles, was nicht wirklich zur Sache von Sprache und Handlung gehört "wird draußen gehalten".

Erst später nehmen wir uns den Sonderbehälter vor, um zu prüfen, welche darin befindlichen Informationen lediglich unnötig gewordener Abfall oder doch, im Gegenteil: eine Anregung für ein Denken sein könnten, die das Denken als "etwas Eigenes" erkennen und definieren lassen und zugleich die Welt der Sprache(n) und die Welt des Handelns begründen und auf vernünftigen Säulen durch die stets turbulierende und für Ideologien anfällige Geschichte tragen könnten.

Es ist vermutlich nicht übertrieben zu behaupten, dass die moderne "sprachphilosophische Philosophie" nach diesem Modell verfuhr und verfährt. Auch und gerade dann, wenn sie die Gebräuche und Gewohnheiten der "ordinary language" untersucht.

Eine neue Philosophie erschien am Beginn des 20. Jahrhunderts und wollte im bisherigen (mehrtausendjährigen) Sprachhaushalt der Philosophie gründlich aufräumen, um die Fragen und Antworten der bisherigen Philosophien als Produkte sprachlicher Missverständnisse aufzudecken. Erst wenn ein "normaler" Sprachgebrauch den "philosophischen" ersetzt haben wird, wird eine wirklich neue Philosophie eine neue und bessere und vielleicht neuerlich mehrtausendjährige Tradition beginnen können.

Offensichtlich handelt es sich bei diesen Überlegungen um solche, die eine genaue Trennbarkeit von Denken und Sprechen, von Denken und Handeln für möglich und wissenschaftlich sogar für notwendig erachten. Weshalb diese Trennbarkeit mit den modernen und postmodernen Philosophien, die uns das 20. Jahrhundert beschert hat, kongenial übereinstimmen.

 (2) Wissenschaften ohne Philosophie

Mittlerweile hat jedoch ein neues Jahrhundert begonnen, und nirgendwo steht geschrieben, dass der Geist der Philosophie des vorigen Jahrhunderts in den kommenden Jahrhunderten überleben wird. Dass ein neuer Geist vor den Toren steht, ist allerdings eine vage Formel, die zu neuen Missverständnissen führen könnte.  Dennoch bleibt der Verdacht bestehen: Moderne und postmoderne Philosophie(n) beginnen in unseren Tagen ihr kurzes Leben auszuhauchen, und daher könnte die Frage, wie man nach ihrem endgültigen Ableben aufs Neue bei der vielleicht vorzeitig für tot erklärten "alten" Philosophie wiederanknüpfen könnte, möglicherweise eine Schicksalsfrage nicht nur für die Philosophie, sondern für die künftige Menschheit insgesamt sein.

Doch eine weitere Möglichkeit hat sich ebenfalls eingestellt: warum nicht überhaupt auf Philosophie verzichten? Es gibt im angebrochenen neuen Äon genügend Wissenschaften, die sich anheischig machen, alle philosophischen Fragen der Menschheit erstmals durchgreifend wissenschaftlich zu beantworten. Und sollte sich unter den Wissenschaften eine Uneinigkeit zeigen, könnte man über ihre "umstrittenen" Definitionen (von A bis Z) entweder demokratisch abstimmen lassen, oder in der jeweils sachlich zuständigen Wissenschaft die vertrauenswürdigste oder "prominenteste" Wissenschaftsrichtung als antwortgebende Autorität anrufen.

Im Fall der Zurückstufung und Neudefinition des Pluto aus einem Planeten in einen "Kleinplaneten" wurde dieses Modell bereits erfolgreich demonstriert. Andere Varianten einer demokratisch pluralen Wahrheitsfindung hat ein US-Philosoph erwogen. (Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart 1993. -  Dazu: https://leo-dorner.net/essays/56-eine-kultur-ohne-zentrum/)

(3) Wien als Brutstätte einer neuen Philosophie

Die genannte Trennung von Denken und Sprechen und von Denken und Handeln war am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Forderung der streng szientifischen Philosophien des Wiener Kreises, die später die Tradition der "sprachanalytischen Philosophie" in der angelsächsischen Kultur begründeten.

Nun ist aber die Möglichkeit der genannten Trennbarkeit eine Trivialität, sie ist nur ein anderer Name für Normalität und Freiheit. Wären Denken und Sprechen sowie Denken und Handeln voneinander nicht auch unabhängig, könnten sie nicht freie und unendlich wandelbare Relationen und Wechselwirkungen realisieren. (Sprach- und Denkverbote können einer freien Welt allerdings durch politische Fehlentwicklungen zustoßen: Eine Partei (und deren "Philosophen") glauben dann zu wissen, dass nur ihr Weg zu einem richtigen und wahren Denken und Sprechen führt.)

Auch der Weg der szientifischen Philosophien wandelt stets auf dünnem Eis: Er wird nicht grundlos verdächtigt, einen Lehr- und Zuchtmeister für ein neues Denken und Sprechen und darauffolgendes Handeln suchen zu wollen, dem sich Bevölkerungsmehrheiten eines Staates, einer Kultur usf.  gehorsam unterordnen sollten.

Unter normalen und freien Umständen (im "Westen" noch heute "Demokratie" genannt) vollzieht jeder politische Redner das Spiel von Trennung und Wiedervereinigung im Sekundentakt, - unbewusst und mechanisch: Er verwendet die Mittel seiner Sprache zu seinen politischen Zwecken. Er "sprachhandelt" unbekümmert auf der Schaukel von Denken und Sprechen und verwendet keinen Gedanken auf die Frage, ob ein Denken als Denken existieren könnte oder gar, wie und wo es zu finden wäre und wie es "aussehen" könnte. Im Regelfall hält er ein "sich selbst denkendes Denken" für Schimäre, für einen Wahn oder für einen (Selbst-)Betrug eben jener "alten" Philosophie, die noch nicht überzeugt werden konnte, ihr endgültiges Harakiri zu vollziehen.

Aber welcher Wahn und welches Verderben des Menschen wäre ein Sprechen ohne Denken, ein Handeln ohne Denken? Doch sei diese Möglichkeit für einmal als realisierbare und realisierte Wirklichkeit ("irgendwo") zugestanden: Mittels exquisiter szientifischer Methoden ließe sich ein "reines Sprechen" und ein "reines Handeln" zweifelsfrei nachweisen: Könnten wir diese beiden Wunderdinge gleichfalls ohne Denken erkennen und definieren? Vielleicht durch "höhere Intuition" könnten wir beispielsweise den Behaviorismus als minderbemittelte Ideologie erkennen und ebenso Wittgensteins Sätze über eine Welt, die nichts weiter ist, als was in ihr der Fall ist?

Ein offensichtlich unsinniger Versuch, weil gedankenfreie Definitionen das Gegenteil ihrer selbst sind, um von Inhalten, die als nichtdefinierbare Sonderwelten wie Fremde nebeneinander existieren könnten, zu schweigen.

Aber das Musizieren, das Laufen, das Kochen usf.: Sind es nicht Sonderwelten, die nur durch ihr eigenes Denken definiert werden können? Wer wollte dies bestreiten? Und deshalb ist ein Denken des Denkens ein Ding der Unmöglichkeit?

In dieser ausweglosen Situation am Ende der bisherigen Philosophie, favorisieren die modernen und postmodernen Philosophien für ihr eigenes Fortbestehen ein weltloses, formales Philosophieren, oft als "innovatives Sprachspiel" präsentiert, womit sie das Gegenteil dessen meinen, was in der traditionellen Philosophie philosophia perennis  genannt wurde und im Denken des Denkens gipfelte.

(4) Randbemerkungen

Als Randbemerkung eine historische Vermutung und These zum Abstieg der traditionellen und zum Aufstieg der szientifischen Philosophien vor und nach dem Ersten Weltkrieg:  Die neuen Philosophen aus dem sprachanalytischen Lager kamen überwiegend aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Kulturbereich. Ihnen bereitete die komplexe Sprache des Neukantianismus und der neuen "Phänomenologie" mit Husserl und Heidegger sowie des frühen Existentialismus große und unüberwindliche Verständnisprobleme. Sie kamen mit Philosophien in Berührung, an die neuerlich anzuknüpfen außerhalb ihres Denkvermögens und Interesses lag. Sie spotteten über Begriffsungeheuer und sinnlose Wortschöpfungen.

Nun ist allerdings zuzugeben, dass ein nur mehr mit sich selbst spielendes Denken auch eine eigene neue Sprache miterspielen kann. Mit Worten, aber auch mit Zahlen und überhaupt mit jedem Inhalt von Welt lässt sich "kreativ" spielen (wie jede Katze mit ihrem Stoffball): Unwillkürlich wurde der Unterschied dieses Denkens vom Schaffen der modernen Kunst hinfällig: auch die totale Entgrenzung des Philosophierens konnte als Befreiung und erfolgreiche Innovation gefeiert werden, als "zentrumloses Zentrum" im Sinne von Richard Rorty.

Ein radikal dezentrales und dekonstruktivistisches Denken vollstreckt den Triumph des postmodernen Philosophierens, dessen Prinzip lautet: Jeder Unterschied ist ein "Unterschied nur von sich selbst".

Dieser und sein Denken lässt sich daher immer weiter unterscheiden und differenzieren, wodurch der Unterschied zwischen vernünftigem Denken und dem Denken einer Spielmaschine hinfällig wird. Und "plötzlich", lässt sich ironisch sagen, begegnen sich natürliche und Künstliche Intelligenz "auf Augenhöhe." Ebenso alte und neue Geschlechter des Menschen, alte und neuen Schönheiten, alte und neue Wahrheiten, alte und neue Rechtspersonen: Noch lassen sich unsere Elefanten ohne Rechtsbeistand in den Gehegen unserer Zoos einquartieren, obwohl sich bereits Berge und Flüsse als notarielle Rechtspersonen anstellen. Nichts geht über den kollektiven Wahn sachkundiger Schreibtischtäter.

Dass diese Art eines mit sich nur mehr spielenden Denkens die letzte Stufe (Dekadenz) des in der Geschichte der philosophia perennis geforderten und verwirklichten Denkens des Denkens sein muss, sollte einleuchten. Wenn es nicht mehr einleuchtet, ist das Licht der Vernunftphilosophie endgültig erloschen.

Noch eine Randbemerkung und historische Vermutung: Da in unserer konfliktreichen Gegenwart und Zukunft offensichtlich die verschiedenartigsten Kulturen und Religionen zu einer neuen Weltkultur zusammenwachsen sollen, ist die Untersuchung aller Arten des Denkens, die in den heute noch getrennten Kulturen und Religionen ("in Orient und Okzident") dominieren, weder harmlos noch verzichtbar. Auf der Suche nach einer verbindlich-verbindendem neuen "Denkungsart" werden vernünftige Verwandtschaften gesucht und honoriert, wie der Erfolg des fernöstlichen Buddhismus in der säkularen westlichen Welt demonstriert.  

(5) Russells Warnung

Am Beginn der philosophischen Moderne Wiener Prägung hatte man noch gewarnt: Man möge das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der Glaube an die Alltagssprache als neue philosophische Heilsbringerin sei gefährlich: Er könnte die Vernunftquelle des Philosophierens verderben und verstopfen.

Dezidiert  erklärte Bertrand Russell, die philosophische Bedeutung der Sprache aller Völker, Nationen und Kulturen sei gering, jede  ihrer Alltagssprachen (heute noch mindestes 6000)  sei "zu verwirrt", um die  metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen, die die Philosophien seit der Antike  beschäftigten und noch immer beschäftigen,  auch nur stellen, geschweige beantworten zu können.

Ob sich die neuen Philosophen der szientifischen Richtungen an diese Aussage Russels erinnerten, als sie Österreich in den 1930er Jahren verlassen mussten, weil die nationalsozialistische Ideologie das freie Philosophieren untersagte? Aber Erinnern allein wäre noch kein Erkennen gewesen: Nicht wenige der neuen Philosophen machten die traditionelle Philosophie in ihrem aktuellen Zustand, den sie in Deutschland auf dem Weg von Husserl zu Heidegger erreicht hatte, für das Entstehen der neuen Ideologie mit verantwortlich. Als nun die neuen Philosophen Österreichs und Deutschlands in die angelsächsische Welt emigrieren mussten, kam ihnen das einfacher gestrickte Englisch entgegen und bestärkte ihren Glauben an eine philosophiefähige "ordinary language".

Und wenn es mit der Normalsprache als neuem Athen der Philosophie nichts werden sollte, hatte die neue Philosophie noch einen zweiten Trumpf im Talon: Die Mathematik und deren spezielle Logik könnten einer neuen Philosophie mittels neuer formaler Logiken auf die Beine helfen. Bereits der deutsche Philosoph Carnap spekulierte mit einer neuen Universalphilosophie, die durch umfassende Sprachbereinigung und mathematische Kalküle den Siegeszug einer neuen Philosophie vorbereite.  

Niemals wieder das phänomenologische Kauderwelsch eines Heidegger und seiner Kollegen ertragen müssen: ein Heilsversprechen an Philosophie und Menschheit. Nur eine "streng wissenschaftliche Philosophie" könne die Menschheit und ihre neue wissenschaftliche Welt in eine große Zukunft führen. 

Doch als diese Vision ihre Denker begeisterte, war in Europa bereits eine politische Revolution im Gange, die schon vor dem Nationalsozialismus die Saat der deutschen Philosophen Marx und Engels in Russland zum Blühen und Ernten gebracht hatte. Ein Verhängnis jagte das nächste: eine Ideologie reichte der nächsten die Klinke des Weltgeistes und alle zusammen zerstörten Europa als führende Kulturmacht der Weltgeschichte.

In den Katstrophenjahren der Weltkriege nach Philosophie fragen und Philosophie praktizieren, blieb sogenannten "inneren Emigranten" in Europa vorbehalten. Dem Verhängnis einer neuen szientifischen Philosophie, die der Normalsprache ein neues Denken entlocken wollte, korrespondierte das Gegenverhängnis einer Philosophie, deren Klassenkampf-Ideologie noch heute Menschen verführt, als wäre die Implosion der Sowjetunion nicht geschehen.

 

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.