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Sinwar und Stalin, Mao und die Mullahs

Sinwar und Stalin, Mao und die Mullahs

Was wäre wenn? Das ist eine der häufigsten Fragen bei der Analyse geschichtlicher Vorgänge. Hängen diese primär von Einzelpersonen ab oder sind diese Personen nur Symbole und Fokus kollektiver Entwicklungen? Diese Frage drängt sich jetzt nach der Tötung praktisch aller relevanten Hamas-Führer wieder ganz stark auf. Ist der Jubel vieler Israelis, aber auch vieler Europäer über den Tod des Hauptverantwortlichen für den unerträglichen Terror-Überfall vom 7. Oktober des Vorjahres berechtigt? Hat jetzt der Friede eine größere Chance? Was wäre geschehen, wenn der Anschlag auf Hitler vom 20. Juli 1944 geglückt wäre? Ginge morgen der Ukraine-Krieg zu Ende, wenn Wladimir Putin in der Früh nicht mehr aufwacht?

Natürlich sind das Spekulationen. Jedenfalls sollte man die Bedeutung von Führungspersönlichkeiten nicht unterschätzen. Denn der Mythos und Schrecken, die sie zu Lebzeiten umgeben, sind eine wesentlicher Teil ihres Machterfolges und Herrschaftssystems. Aber eben nur ein Teil. Das lässt sich etwa am Beispiel Russlands gut beweisen:

Die Sowjetunion ist durch den Tode Stalins eindeutig eine andere geworden. Sie wurde bei aller anhaltenden Brutalität Chruschtschows und Breschnjews gegenüber den unterjochten Völkern (siehe Budapest 1956 oder Prag 1968) doch durch das Ende Stalins eine andere. Sie ist intern deutlich liberaler geworden und hat extern von Weltrevolutions- (=Weltherrschafts-)Träumen auf "friedliche Koexistenz" geschaltet, Österreich die Freiheit ermöglicht und keine Kriege mehr begonnen.

Es waren dann eindeutig wieder die Einzelpersonen Gorbatschow und Jelzin, die es ermöglichten, dass auch die um nationale und demokratische Freiheit ringenden Nationen Osteuropas diesen Weg dann ohne Blutvergießen gehen konnten.

Genauso war es dann aber auch wieder die Einzelperson Putin, die Russland in eine nationalfaschistische Diktatur rückverwandelte, die wieder brutale Eroberungskriege führte und alle demokratischen und rechtsstaatlichen Öffnungen unter Gorbatschow und Jelzin zudrehte.

Es kann kein Zufall sein, dass es gerade Russland war und ist, in dem immer Einzelpersonen eine so große Rolle spielen. Russland ist ein Land, dessen nationale und kollektive Identität ganz stark auch schon in früheren Jahrhunderten vom Mythos brutaler Eroberer geprägt war und ist, das nie in Ruhe und über längere Zeiten demokratische und – wohl noch wichtiger – rechtsstaatliche Traditionen entwickeln hat können, das massenpsychologisch eine ungute Mischung aus (durch eine sehr nationalistisch geprägte Form des Christentums unterstützten) Überlegenheitsüberzeugungen und Minderwertigkeitskomplexen darstellt.

Nur auf diesem kulturellen Untergrund konnten einzelne Diktatoren ihr Regime aufbauen. Deren Herrschaft war aber jeweils ganz unterschiedlich, ganz individuell geprägt. Unter ihnen sind auch wohlmeinende gewesen, weshalb der Tod oder Sturz einzelner Herrscher sehr wohl immer Bedeutung hat.

Ganz ähnlich China: Auch hier dominiert die kriegerische Geschichte, das unglaubliche Überlegenheitsgefühl eines Reichs, das sich als Mitte der Welt versteht, über alle anderen Völker ringsum und das völlige Fehlen eines rechtsstaatlich-demokratischen Kultur- und Geschichts-Fundaments die Entwicklung. So haben darauf aufbauend und daraus hervorgehend einzelne Führer immer wieder jeweils völlig andere Richtungen vorgeben können. Wie der millionenfache Mörder Mao Zedong, wie der große liberale Reformer Deng Xiaoping oder jetzt der bedrohliche Xi Jinping.

Gar nicht so unähnlich ist die Geschichte Serbiens, das unter dem Diktator Tito seinen größten Herrschaftsbereich erzielt hatte. Das Land ist geprägt durch mangelnde rechtsstaatlich-demokratische Fundamente in der Geschichte, deutliche Überlegenheitsgefühle, durch eine sehr eigene Sicht auf die Vergangenheit und ein überaus starkes Nationalbewusstsein, das auf folgendem, immer wieder gehörten Mythos beruht: "An uns Serben ist das osmanische Großreich, das Großreich der Habsburger, das Großdeutschland Hitlers zerschellt; und das sowjetrussische Imperium hat uns im Gegensatz zum restlichen Osteuropa nie unterjochen können."

Lange kann man diskutieren, wie weit auch Hitler ganz in diese Reihe passt, ob ein Erfolg des 20. Juli Deutschland in einen demokratischen Rechtsstaat verwandelt hätte, oder ob es dazu dann wirklich den totalen Sieg der Alliierten und die Jahre der Umerziehung gebraucht hat. Das würde hier aber heute zu weit führen.

Für heute ist aber wohl Tatsache, dass nirgendwo in der Welt Demokratie und Rechtsstaat durch objektive und kollektive Faktoren so sicher einzementiert sind wie in den Völkern zu beiden Seiten des Atlantiks westlich Russlands und nördlich des ehemaligen Jugoslawiens. Dabei hat der deutliche Antagonismus zum Versagen der kommunistischen Diktaturen genauso wie das Fundament der eigenen Vergangenheit eine entscheidende Rolle gespielt.

Letztlich sind also wohl die kulturell-rechtsstaatlichen Fundamente (insbesondere die schon vor mehr als 200 Jahren entstandenen großen liberalen Rechtsordnungen in Frankreich, Preußen, Österreich und den USA) wichtiger als die Einzelpersonen in der Geschichte, ohne deren Bedeutung vom Tisch wischen zu wollen.

Das aber heißt nichts Gutes für den Nahen Osten. So sehr den Israelis zu wünschen wäre, dass ihr Jubel über die Vernichtung des Megaverbrechers Sinwar berechtigt ist, so sehr muss man an diesen Hoffnungen zweifeln. Sinwar ist letztlich nur das Produkt eines komplett hasserfüllten Kollektivs gewesen, in dem es keine Spuren von rechtsstaatlicher und demokratischer Entwicklung, keine Spur von Toleranz oder Bereitschaft gibt, die Existenz Israels zu akzeptieren. Im Gegensatz zum Altterrorismus eines laizistischen Jassir Arafat ist heute der kollektive Hass sogar noch durch eine kriegerische Religion verstärkt worden, die nicht gerade durch Gebote der Nächstenliebe geprägt ist.

Und selbst wenn man glaubt, dass die Geschichte durch die Eliminierung von Einzelpersonen entscheidend geändert werden kann, so muss klar sein: Sinwar ist nicht der oberste Herr des Bösen gewesen. Dessen Spitze ist heute vielmehr eindeutig in Teheran zu finden. Die totalitäre Herrschaft der Mullahs ist aber ganz eindeutig nicht nur durch eine einzelne Bombe von außen zu beenden. Und selbst wenn das ginge, lebt der Ungeist des Bösen wohl in Tausenden Moscheen weiter. Leider.