Wie FPÖ und ÖVP ihre letzte Chance verspielten – und noch eine haben
Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft ausgerechnet mitten während der Gespräche, Sondierungen, Verhandlungen, Nachdenkphasen (oder sonst was) über die Bildung einer neuen Regierung vom Parlament die "Auslieferung" des FPÖ-Parteiobmannes Herbert Kickl verlangt, um gegen diesen ein Strafverfahren wegen mehrerer mutmaßlich falscher Aussagen in einem Untersuchungsausschuss zu eröffnen, könnte das politische Spiel total auf den Kopf stellen. Auch wenn von der WKStA sicher nicht beabsichtigt, eröffnet dieses Verlangen überraschenderweise doch noch die Chance für ÖVP und FPÖ, gesichtswahrend zu dem zu kommen, was die große Mehrheit ihrer Wähler will, was gut für Österreich wäre, was die beiden Parteiführungen in den letzten Wochen aber jammervoll vergeigt haben. Jedoch: Sie werden wohl auch noch diese Chance verspielen. Nicht zuletzt deshalb, weil auf beiden Seiten die Politiker fehlen, die zu vorausdenkendem strategischem Denken imstande sind. Statt dessen werden beide Parteien durch Menschen voller Ressentiments und Eitelkeiten geführt.
Gute Strategen würden heute als erstes die politische und juristische Situation nüchtern analysieren und zu folgenden Schlüssen kommen:
- Das gegen Herbert Kickl eingeleitete Strafverfahren wird mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer Anklage führen. Denn sonst würde die Korruptionsstaatsanwaltschaft WKStA, die das Verfahren betreibt, völlig das Gesicht verlieren. Stehen doch gegen Kickl haargenau die gleichen Vorwürfe wie gegen Sebastian Kurz im Raum. Überdies war Kickl nicht so wie Kurz nur bei einer Passage seiner Aussage im parlamentarischen Untersuchungsausschuss unpräzise, sondern gleich bei mehreren.
- Beim üblichen Tempo der WKStA ist aber keinesfalls in den nächsten Wochen, also während der Regierungsbildung mit einer solchen Entscheidung über eine Anklageerhebung zu rechnen. Haben sie doch schon fast ein halbes Jahr seit Einbringung der Anzeige gegen Kickl (die wohl als Wahlkampfgag geplant war) gebraucht, um den simplen Antrag auf Enthebung des FPÖ-Obmannes von seiner parlamentarischen Immunität zu formulieren (vor einem Enthebungsbeschluss dürfen sie gar nicht gegen ihn recherchieren!). Daher wird die viel kompliziertere Anklageschrift noch viele Monate, wenn nicht Jahre brauchen.
- Sollte Kickl zum Zeitpunkt der Einbringung der Anklage Bundeskanzler (oder sonst ein Regierungsmitglied) sein, so müsste er zwingend zurücktreten – zwar nicht aus rechtlichen, aber aus politischen Gründen. Gab es doch 2021 zahllose Aufforderungen Kickls an Kurz zurückzutreten – genau wegen der Einbringung der Anklage. Sein damaliges Argument: Es wäre unerträglich, wenn ein amtierender Bundeskanzler gleichzeitig auf der Anklagebank sitzen müsste. Träte daher Kickl jetzt im Falle einer Anklage gegen seine Person nicht zurück, müsste er sich geradezu stündlich im gesamten Rest seiner Tätigkeit seine einstigen Aussagen vorhalten lassen, bis auch der letzte FPÖ-Wähler die Peinlichkeit versteht.
- Daher kann es in Wahrheit auch nicht im Interesse Kickls oder der FPÖ sein, wenn Kickl jetzt Bundeskanzler werden sollte. Auch wenn es niemand auszusprechen wagt.
Was also tun? Die FPÖ und damit auch die Perspektive auf ein nicht-linkes Österreich scheinen heillos in einer Sackgasse steckengeblieben zu sein. Aus dieser Sackgasse finden Kickl und die Freiheitlichen nur dann heraus, würden sich die Führungen von Blau oder Schwarz als schlau und als taktisch genial erweisen, würden sie begreifen, wie klug etwa in den Niederlanden eine ähnliche Situation gelöst worden ist, welche Chance in Wahrheit das WKStA-Agieren bedeutet.
Dann gäbe es zwei Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit müsste jetzt – freilich noch in den allernächsten Tagen! – vor allem durch ein kluges Agieren der ÖVP angesteuert werden. Die Schwarzen könnten noch vor einer Entscheidung über die Auslieferung der FPÖ in einem vertraulichen Treffen anbieten: "Wir blockieren zusammen mit euch die Auslieferung, und im Gegenzug einigen wir uns auf einen anderen Bundeskanzler als Kickl." Die ÖVP könnte das durchaus gut auch öffentlich argumentieren, als sie ja schon beim Verfahren gegen Kurz immer wieder gesagt hat, dass da ein eindeutiges politisches Verfahren stattfindet, dass der Untersuchungsausschuss wie ein parlamentarischer Parteienkampf abgelaufen ist, in dem man sich gegenseitig Fallen stellt, statt dass wie in einem echten Prozess ein unabhängiger Richter in aller Ruhe einen Zeugen zur Präzisierung von unklaren Aussagen veranlasst. Daher kann sie auch bei Kickl jetzt sagen: Da geht es um ein eindeutig politisches Tribunal, und da liefern wir auf Grund all unserer Erfahrungen nicht aus (Der einzige Unterschied zum Verfahren gegen Kurz: Bei diesem hat damals nicht die Notwendigkeit einer Auslieferung durch das Parlament bestanden, da Kurz damals nur Bundeskanzler, nicht Parlamentarier gewesen ist).
Die zweite Möglichkeit eröffnet sich für Herbert Kickl selbst. Mit dem Argument, dass er gleichsam noch sauberer als Kurz sein will, und da er deshalb nicht gleichzeitig mit einem Strafverfahren Bundeskanzler sein will, könnte er schon jetzt auf das Kanzleramt verzichten. Dieser Verzicht gilt solange, bis Kickl rechtskräftig freigesprochen, beziehungsweise das Verfahren gegen ihn eingestellt wird. Im Hintergrund einer solchen Entscheidung würde auch das Wissen liegen, dass es sonst in der Hand der Kickl gegenüber gewiss nicht freundlich eingestellten WKStA-Staatsanwälte läge, ihn, erstens, ständig durch obligatorische Verhör-Termine zu demütigen (deren Ergebnisse dann in bekannter Art jeweils selektiv an die Öffentlichkeit gespielt werden); dass diese Staatsanwälte ihn, zweitens, mit der Bekanntgabe der Einbringung einer Anklage jederzeit überraschen können; dass er dann, drittens, erst recht zurücktreten müsste – oder wirklich ständig mit seinen einstigen eigenen Rücktrittsaufforderungen gegen Kurz konfrontiert würde.
Kickl könnte dabei aber auch auf das Beispiel des niederländischen Wahlsiegers Geert Wilders verweisen, der ihm politisch nahesteht, der nach einem großen Wahlsieg aber ebenfalls auf Eintritt in die Regierung verzichtet hat. Wilders ist ein ähnlich strategisch denkender Akteur wie die eingangs erwähnten Politiker und hat daher durchschaut:
- Durch seinen Rückzug ins Parlament hat er eine Koalition ähnlich denkender Parteien ermöglicht und die Linke in die Opposition gezwungen.
- Dies wäre unter seiner (ähnlich zu Kickl) polarisierenden Regierungsführung wahrscheinlich nicht geglückt.
- So konnte Wilders einen eher farblosen, ihm nahe- (oder unter-)stehenden Ministerpräsidenten installieren.
- So ist er als führender Parlamentarier in Wahrheit jetzt der Tonangeber für die Regierung und kann seine islam- und migrationskritische Politik vorantreiben.
- So ist Wilders heute wahrscheinlich politisch, wenngleich nicht protokollarisch der mächtigste Mann des Landes.
Offen ist freilich, ob Kickl eigentlich überhaupt will, dass in Österreich rechts regiert wird, dass seine FPÖ im Triumph in die Regierung zurückkehrt, dass er viel gestalterische, wenn auch keine protokollarische Macht in die Hände bekommt. Als intelligenter Politiker spürt er, dass scharfe Oppositionspolitik viel mehr seine Sache ist als die Kompromisssuche in einer Regierung, wo man auf viel mehr Dinge – vom Bundespräsidenten bis zur EU – Rücksicht nehmen müsste. Wechselt die FPÖ in die Regierung, dann könnte Kickl auch nicht mehr das durchaus erfolgreiche Mitleidsspiel der letzten Wochen perpetuieren: "Ich werde diskriminiert, die Einheitspartei verfolgt uns."
Gleichzeitig könnte er sich bei einem Verbleib in der Opposition – in Fortsetzung der für ihn extrem guten Umfrageentwicklung in den Wochen nach der letzten Wahl – für die nächste Wahl einen noch viel triumphaleren Sieg erwarten. Denn die ÖVP dürfte sich mit hoher Sicherheit, auch angesichts der schlimmen internationalen und wirtschaftlichen Lage, in einer Koalition mit der Babler-SPÖ komplett aufreiben.
Wenn die FPÖ und die ÖVP eine der beiden zuvor skizzierten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit aufgreifen wollten – so unwahrscheinlich das letztlich auch ist –, wer könnte dann Bundeskanzler werden?
- Nach holländischem Beispiel könnte die FPÖ einen nahestehenden Spitzenbeamten suchen;
- wenn Kickl eine gefügige Bundeskanzlerin unter sich als Fraktions- und Parteichef haben will, dann käme die oberösterreichische Abgeordnete und Rechtsanwältin Susanne Fürst in Frage;
- sollte er eine starke Bundeskanzler-Persönlichkeit akzeptieren, dann wären natürlich die derzeit in ihre jeweiligen Bundesländer abgeschobenen Herren Norbert Hofer oder Manfred Haimbuchner die geeignetsten.
Wie sieht die ganze Konstellation nun aus Sicht der ÖVP aus?
- Sie könnte einerseits in der üblichen Parteipolemik sagen: Jemand, gegen den ein Verfahren läuft, der kann nicht Kanzler werden, also bleibt uns jetzt gar nichts anderes übrig, als das einzuhalten, was unser Parteiobmann schon vor der Wahl gesagt hat (Problem dabei: Die ÖVP hat Kickl schon vorher aus ganz anderen, freilich nie konsistent kommunizierten Gründen abgelehnt).
- Sie könnte – nachdem sie ihm ein öffentlich bekanntgewordenes Angebot gemacht hat – sagen: Man sieht, der will ja gar nicht regieren, sondern immer nur aus der Opposition heraus schimpfen.
- Auf der anderen Seite hat sie ihre eigene Lage in diesem taktisch-strategischen Spiel selbst stümperhaft verschlechtert. Denn sie hat ja selbst die Anzeige gegen Kickl eingebracht. Das erschwert nun schon rein emotional vieles in der Beziehung zur FPÖ.
- Wäre die ÖVP zumindest taktisch klug, hätte sie das gemacht, was die anderen Parteien ständig tun: Dann hätte sie die Anzeige gegen Kickl nicht selber eingebracht, sondern durch einen anonymen Anzeiger einbringen lassen.
- Sie hätte mit keiner einzigen Person aus der heutigen FPÖ auch nur annähernd so große Schwierigkeiten wie mit dem ehrgeizigen Kickl.
Aber wie schon am Anfang gesagt: Strategisches oder zumindest taktisch kluges Agieren ist in der heutigen Politklasse ein totales Fremdwort geworden. Ähnlich wie die zweite wichtige Politiker-Eigenschaft: Das wäre charismatische Ausstrahlung, wie man sie etwa bei den Herren Kreisky, Haider, Grasser, Kurz und Androsch – unabhängig von ihren strategischen und taktischen Fehlern – beobachten hat können. All die heutigen Parteichefs lassen einen total kalt. Am ehesten warm hat in diesem Wahlkampf noch ein Herr Wlazny gemacht ...