Es ist wie Weihnachten
Es ist wie Weihnachten: Täglich geht jetzt ein Wunsch des Tagebuchs in Erfüllung. Nach Jahren ignorierter Ratschläge hat sich die Österreichische Volkspartei jetzt endlich in höchster Not entschlossen, die Tür Richtung FPÖ wieder zu öffnen. Zumindest ein paar Zentimeter. Sie hat sich nach dem Rücktritt von Bundeskanzler und Parteichef Karl Nehammer mit dem bisherigen Generalsekretär Christian Stocker einen neuen geschäftsführenden Parteiobmann gegeben und sich gleichzeitig grundsätzlich bereit zu Regierungsverhandlungen mit der FPÖ gezeigt, die als erste bei den Septemberwahlen durchs Ziel gegangen war, mit der aber bisher niemand koalieren wollte. Nehammer muss sich wohl heute noch ärgern, dass er nicht einem weiteren Rat des Tagebuchs gefolgt ist, nämlich dass die Rechtsparteien so wie Italien im Dreieck Meloni-Salvini-Berlusconi schon vor der Wahl gesagt haben: Wir werden koalieren. Und wer von uns am meisten Stimmen hat, wird Regierungschef. Dann wäre er nämlich weiterhin Bundeskanzler.
Die drohende/erhoffte Möglichkeit einer Rückkehr von Kurz hat aber für die ÖVP eine wichtige Funktion: Sie kann sich damit eine halbwegs glaubwürdige Alternative aufbauen, um sich nicht ganz von der FPÖ in den nun bevorstehenden schwierigen Verhandlungen erpressen zu lassen. Das war notwendig geworden, nachdem sie viel zu früh ihre andere Alternative – es mit der SPÖ zu versuchen – ausgespielt und verspielt hatte. Seither könnte die FPÖ immer sagen: Wenn ihr nicht spurt, gibt es Neuwahlen; und Neuwahlen sind beim gegenwärtigen Umfragestand der ÖVP nicht gerade erwünscht. Also müssten die Schwarzen eigentlich alles hinnehmen – aber Neuwahlen gegen Kurz kommen auch der FPÖ nicht zupass.
Die Rolle Stockers wird in den nächsten Monaten jedenfalls schwierig sein: Denn er ist ein Mann Nehammers und hat auch dessen FPÖ-Kurs mit vielen harten Attacken vollständig mitgetragen. Stocker hat insbesondere auch eine Strafanzeige gegen Herbert Kickl eingebracht – mit haargenau den gleichen Vorwürfen einer Falschaussage in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wie sie auch den Rücktritt von Sebastian Kurz als Regierungschef erzwungen haben. Diese Strafanzeige ist natürlich von den linken Staatsanwälten genauso begierig aufgegriffen worden wie jene gegen Kurz. Es könnte daher sein, dass Österreich bald einen Bundeskanzler haben wird, der auf der Anklagebank sitzt.
Kann aber ausgerechnet Stocker den Dialog mit der FPÖ wieder in Gang bringen? Es wird jedenfalls nicht genügen, um wieder glaubwürdig zu werden, dem Bundespräsidenten Alexander van der Bellen allein die Verantwortung zuzuschieben, der entgegen den üblichen Usancen den Regierungsbildungsauftrag zuerst nicht an den Wahlsieger Kickl gegeben hat, der aber jetzt nach dem Schwenk der ÖVP entgegen den Wünschen des Bundespräsidenten die nächste Regierung bilden wird. Aber wenn die ÖVP jetzt nur Van der Bellen als Schuldigen hinstellt, wäre das recht unglaubwürdig, hat sich doch das Staatsoberhaupt dabei auf das Njet der ÖVP zu Herbert Kickl berufen können.
Es gibt jedenfalls einen signifikanten Unterschied zwischen diesem bisherigen und nun fallengelassenen ÖVP-Nein zur FPÖ und der deutschen "Brandmauer" gegen eine Zusammenarbeit auch der Unionsparteien mit der AfD. Der Unterschied besteht nicht nur darin, dass die FPÖ derzeit überlegen auf Platz 1 liegt (bei den Wahlen mit 29 Prozent und bei den derzeitigen Umfragen sogar mit 36 Prozent), während die AfD in Deutschland mit großem Abstand auf die CDU nur Zweiter ist. Der Unterschied besteht auch darin, dass die ÖVP, dass auch Nehammer immer bereit gewesen ist, mit der FPÖ zu verhandeln und mit ihr Koalitionen zu bilden (ganz anders die CDU in Hinblick auf die AfD). Die bisherige Parteispitze – einschließlich Stocker – hat einzig die Person Kickl abgelehnt, weil dieser oft beleidigend gewesen ist und weil er polarisierend und nicht verlässlich sei.
Es bleibt dennoch ziemlich rätselhaft, warum die Partei ausgerechnet mit Stocker aus dieser alles andere als überzeugenden Argumentation herauskommen will. Denn die FPÖ scheint jedenfalls nicht bereit, einen anderen Bundeskanzler zu stellen, der nicht Kickl heißt.
Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit stark gestiegen, dass die Ostalpenrepublik erstmals einen Regierungschef aus dem rechtskonservativen Lager bekommt, das man auch als rechtspopulistisch bezeichnen kann – aber nur dann, wenn man so ehrlich ist, umgekehrt auch die Sozialdemokraten als linkspopulistisch zu bezeichnen. Zwar wird die FPÖ so wie die AfD in Deutschland von der linken Konkurrenz als "rechtsextrem" bezeichnet, aber das ist in Wahrheit reine Diffamierung. Denn es gibt nicht den geringsten Beweis, dass durch die FPÖ die Zukunft der Demokratie oder des Rechtsstaats in Österreich bedroht wäre. Und jene Elemente in der FPÖ, die über den Nationalsozialismus relativierend zu sprechen versucht haben, sind seit rund zwei Jahrzehnten eliminiert worden.
Die Volkspartei hat auch schon zweimal relativ gute Erfahrungen in Koalitionen mit der FPÖ gesammelt: nach 2000 und nach 2017. Ebenso wie die SPÖ in den Jahren 1970 und 1983 (was die SPÖ aber gerne verdrängt, weil damals sogar noch ehemalige SS-Angehörige in der FPÖ zu finden waren). Praktisch jedes Mal war die Koalition jedenfalls an etwas anderem gescheitert als an einem angeblichen Rechtsextremismus der FPÖ. Es waren fast jedes Mal innere Umbrüche in der FPÖ, wo es ein Teil nicht ertragen hat, dass die Teilnahme an der Regierungsverantwortung geradezu automatisch bei einer Partei zu starken Verlusten führt, die auch viele Proteststimmen eingesammelt hat, welche bei den oft unvermeidlich unpopulären Maßnahmen einer Regierung sofort verloren gehen.
Für die ÖVP und viele andere außerhalb der FPÖ gibt es außer dieser geringen Frustrationstoleranz der FPÖ noch zwei ganz andere Punkte, an denen es noch scheitern kann: Das sind die Bereiche Außen- und Gesundheitspolitik. Während man die einstige Kritik der FPÖ an den Corona-Maßnahmen und Impfungen vielleicht noch ignorieren kann, so ist die Sympathie der FPÖ für Russlands Putin, ihre Ablehnung der Hilfe an die Ukraine, ihre Kritik an der EU-Mitgliedschaft und ihre Ablehnung des Raketenschutzschirms "Sky Shields" (an dem das neutrale Vorbild Schweiz sehr wohl teilnimmt) ein gewaltiges, für die ÖVP kaum überwindbares Problem.
Umgekehrt hat sich auch die Parteienszene jenseits der FPÖ mit ihren Darbietungen in den letzten Monaten viel Kritik verdient. Über ein Vierteljahr hat sie mit dem Ziel einer Dreierkoalition ohne FPÖ verhandelt, bis zuerst die linksliberalen Neos, dann die liberalkonservative ÖVP zu einer Erkenntnis gekommen sind, die in unabhängigen Analysen von Anfang an eigentlich klar gewesen ist: Mit den Sozialdemokraten lässt sich keine sinnvolle Koalition eingehen, lässt sich kein Staat machen. In Zeiten der längsten Rezession der letzten Jahrzehnte und eines ausgeuferten Defizits schon gar nicht, in denen eigentlich absolut kein Platz für die vielen Wohlfahrtsstaats-Ausweitungen, Geschenke und Wählerbestechungen ist, welche Sozialdemokraten so lieben und als ihren einzigen Lebenszweck ansehen. Noch viel weniger ist für nicht-linke Parteien – die in Österreich immerhin zwei Drittel ausmachen – eine Koalition mit der SPÖ unter ihrem jetzigen Vorsitzenden Andreas Babler vorstellbar, der zweifellos der am weitesten links stehende SPÖ-Chef seit Kriegsende ist und der in alter sozialistischer Fixation noch immer von Steuererhöhungen träumt, um weiter Wohltaten verteilen zu können.
Die Unfähigkeit der Babler-SPÖ zu einer sinnvollen Politik hat man eigentlich schon spätestens seit den Wahlen im September wissen müssen. Dennoch haben Karl Nehammer und die liberalen Neos so lange mit dem Mut der Verzweiflung – aber letztlich vor allem mit großer politischer Naivität – mit der SPÖ gerungen und geglaubt, doch noch die Quadratur des Kreises zu schaffen. Am Freitag aber haben dann die Neos unter klarem Verweis auf die Schuld der Sozialdemokraten aufgegeben. Am Samstagabend hat dann auch die Volkspartei beschlossen aufzugeben. Und am Sonntag hat man dann die Türen zur FPÖ geöffnet.
Vor allem, aber nicht nur der wirtschaftsnahe Flügel hat Nehammer, der immer noch weiter mit der SPÖ verhandeln wollte, dazu geradezu gezwungen. Jetzt ist Nehammer plötzlich sowohl seinen Job als Partei- wie auch als Regierungschef los. Das geschah aber alles letztlich wegen seiner eigenen Fehler, weil er seit einem Jahr die falsche Strategie eingeschlagen hat, weil er ständig vor Kickl gewarnt hat, aber mit der für viele bürgerliche Wähler weit schlimmeren Babler-SPÖ verhandelt hat.
Bei aller Kritik an den langen und letztlich gescheiterten Verhandlungen kann man den Neos und der ÖVP aber auch zugute halten, dass sie weit schneller gewesen sind als die deutsche Parteienszene. Immerhin haben die Österreicher schon vor Bildung einer Regierung erkannt, dass es mit den Sozialdemokraten in Zeiten wie diesen einfach nicht mehr geht. Zu dieser Erkenntnis hat zweifellos das Beispiel der deutschen Ampel Entscheidendes beigetragen. In Deutschland hat man hingegen erst nach drei Regierungsjahren und damit viel größerem Schaden für die Wirtschaft – nicht nur Deutschlands, sondern auch die in anderen Ländern – den Stecker gezogen.
Teile dieses Beitrags sind in ähnlicher Form auch in der renommierten Schweizer Plattform "Nebelspalter.ch" erschienen.