
Nehammer, Stocker, Kurz und die Deutschen
Die letzten Tage haben zu einer heiklen Frage geführt: Hat dieses Tagebuch Karl Nehammer vielleicht Unrecht getan, als es ihn schon vor der Wahl heftig dafür kritisiert hat, dass er Herbert Kickl als möglichen Regierungspartner absolut ausgeschlossen hat? Die Vorgänge der letzten Tage legen diese Selbstkritik nahe – aber dennoch sei dabei geblieben: Bei allen unerfreulichen Charakter-Eigenschaften Kickls, die sich da zuletzt gezeigt haben, bei allem üblen Hass, den er als politisches Hauptprinzip praktiziert, bei all seiner Ich-Treue anstelle der so dringend nötigen Österreich-Bezogenheit hat Nehammer falsch gehandelt.
Und da ist keine Frage: Mit der FPÖ kann die ÖVP mehr Sinnvolles, Notwendiges, Richtiges umsetzen als mit der SPÖ. Man muss der ÖVP auch zugutehalten, dass nicht sie es war, die jetzt die Koalitionsverhandlungen abgebrochen hat, sondern Herbert Kickl, nur weil er "sich selbst" nicht untreu werden wollte – auf Deutsch: Nur weil er sein Lieblingsspielzeug, das Innenministerium, nicht bekommen hat.
Natürlich wäre da ein sinnvoller Kompromiss möglich gewesen: Wenn man den Verfassungsschutz herauslöst, hätte man das Innenministerium samt dem Bereich Asyl und Migration durchaus an Kickl geben können. Schließlich ist die Nachrichtendienst-Arbeit alles andere als zwangsweise mit dem Polizeiministerium verbunden, wie viele internationale Beispiele zeigen. Und ebenso unbestritten sollte sein, dass gerade ein österreichischer Nachrichtendienst mit seinen beschränkten Mitteln die vertrauensvolle internationale Zusammenarbeit braucht, die unter einem Minister einer Partei mit Moskau-Sympathien zweifellos schwieriger geworden wäre.
Aber dass er darüber einfach nicht mehr weiter verhandeln wollte, sondern alles hingeschmissen hat, zeigt einige der problematischen Charakterzüge des Herbert Kickl: Das sind sein kompromissloser und damit undemokratischer Durchsetzungswille, seine totale Ich-Bezogenheit, sein grundlegender Irrtum, dass knappe 29 Prozent der Stimmen den Anspruch auf Erfüllung all seiner Wünsche geben würden, denen ein Koalitionspartner, der zweieinhalb Prozent(punkte weniger hat, sich unterzuordnen hätte. Es ist jedenfalls aus den Koalitionsverhandlungen kein einziger Punkt bekannt geworden, wo Kickl irgendwo wesentliche Konzessionsbereitschaft gezeigt hätte. Auch 38 Prozent der Stimmen hätten im Übrigen diesen absoluten Anspruch nicht getragen, die ihm Umfragen ein paar Tage lang gegeben haben, als niemand mit ihm als relativem Wahlsieger verhandeln wollte, was viele Österreicher zu Recht empörte. Seit er nicht mehr diskriminiert wird, sind diese Werte inzwischen auch wieder auf 33 bis 34 Prozent gefallen.
All diese problematischen Seiten Kickls haben Nehammer und die ihn in diesem Punkt unterstützende Karoline Edtstadler wohl schon vorher gekannt. Sind sie ihm doch auch schon in Zeiten einer gemeinsamen Koalition gegenübergestanden. Dennoch war es grundfalsch, auch wenn die Linie von politisch ahnungslosen PR-Beratern entworfen worden ist, deswegen schon vor der Wahl zu sagen: "Keinesfalls mit Kickl!"
Denn
- erstens zeigt es mangelnden Respekt vor den Wählern, die am Wahltag selbst entscheiden wollen;
- zweitens war es der ÖVP in keiner Weise gelungen, vor der Wahl die Wähler, die ihn halt nicht so gut kannten, von der mangelnden Eignung Kickls zu überzeugen;
- drittens wollen Wähler selbst über den Charakter eines Politikers entscheiden – das Urteil einer Konkurrenzpartei hat da wenig Aussagekraft und diskreditiert nur eher diese Partei;
- viertens hat man die Möglichkeit total außer Acht gelassen, dass viele Menschen mit der ihnen übertragenen Aufgabe auch mitwachsen, also dass Kickl sich charakterlich als präsumtiver Regierungschef zu wandeln imstande wäre;
- fünftens vertrieb die ÖVP dadurch etliche ihrer Wähler ins Lager Kickls, die nach den holprigen letzten Jahren mit den Grünen keinesfalls wollten, dass wieder eine Linkspartei, dass etwa gar der Linkssozialist Babler in die Regierung kommt – was aber zwingend ist, wenn man die Freiheitlichen ausschließt;
- sechstens akzeptieren es die Wähler (zu Recht) nicht, dass Parteien persönliche Animositäten austragen, sie sehen darin eine Art Pflichtverletzung und Arbeitsverweigerung oder gar eine Sandkistenstreiterei;
- siebentens nahm sich die ÖVP dadurch bei den Koalitionsverhandlungen selbst eine strategische Alternative – oder stand, noch schlimmer, als Umfallerpartei da, als sie dann doch mit Kickl verhandelte;
- Achtens hat sie sich dadurch a priori die Möglichkeit beschnitten, es glaubwürdig von Sachfragen abhängig zu machen, ob es zu einer Koalition kommt;
- und neuntens war dadurch Kickls Rachesehnsucht zusätzlich angestachelt, dessen emotionales Hauptziel es offensichtlich nicht ist, Österreich in seinem Sinne zu verändern – von der Migration bis zum Kampf gegen die Wokeness –, sondern es ging ihm nur darum, die ÖVP zu demütigen.
Diesem strategischen ÖVP-Fehler vor der Wahl schließt sich ein ähnlicher Fehler am Beginn der Verhandlungen mit Kickl an: Da hat man zu verhandeln begonnen, ohne die Ressortverteilung vorweg thematisiert zu haben. Nur so hätte man jedoch weitgehend ausschließen können, dass Kickl seine Demütigungslinie tatsächlich umsetzt.
Ein noch größerer Fehler ist der ÖVP dann nach dem 6. Februar unterlaufen: Als Kickl plötzlich – wider alle Verabredungen, vertraulich zu verhandeln und sich nicht öffentlich konkrete Rote Linien auszurichten, – mit der konkreten Forderung nach den beiden Schlüsselministerien Inneres und Finanzen in die Öffentlichkeit gegangen ist, hätte man erkennen müssen, dass der FPÖ-Chef auf einen Abbruch der Verhandlungen hin taktiert und nicht mehr echt verhandelt (worauf auch schon die Tatsache hingedeutet hat, dass – wie zumindest die ÖVP ausgerechnet hat – Kickl insgesamt nur sieben Stunden an den Verhandlungen teilgenommen hat). Aber die ÖVP durchschaute die Taktik Kickls nicht.
Daher war sie dann auch recht hilflos und unvorbereitet dem Kickl-Narrativ ausgesetzt, als er scheinbar plötzlich den Regierungsauftrag zurückwarf und behauptete, dass die Verhandlungen nur an der Postengier der ÖVP gescheitert seien, weil diese den Innenminister haben wollte. Die Schwarzen haben bis heute diesem Narrativ keine wirksame Gegenerzählung entgegensetzen können. Sie haben es nicht geschafft, klar, präzise und für den Durchschnittsösterreicher nachvollziehbar zu formulieren, welche inhaltlichen Punkte der FPÖ-Forderungen für sie inakzeptabel und für Österreich schlecht sind. Wer das Kommunikationsmatch verliert – oder wer es zu den Rahmenbedingungen der Gegenseite zu spielen beginnt –, der hat schon das ganze Match verloren.
Zurück zu Nehammers Vor-Wahl-Fehler. Der bleibt also ein Fehler, auch wenn Stocker dann zwei weitere schwere taktische Fehler zu verantworten hatte. Dennoch unterscheidet sich die Positionierung der ÖVP gegenüber der FPÖ grundlegend und positiv von der Haltung der CDU gegenüber der AfD. Während die ÖVP sich an der Person des FPÖ-Spitzenmannes stößt, hat sie sich nicht von der CDU zwingen lassen, mit "denen da" prinzipiell keine Zusammenarbeit einzugehen.
Aber in der CDU hat Friedrich Merz wider alle Erwartungen diese Linie Angela Merkels fortgesetzt. Die Manie der CDU, und der Linksparteien erst recht, ständig von Rechtsextremisten, Faschisten oder gar Nazis zu schwafeln, mit denen man sich nicht blicken lassen dürfe, ist aber für immer weniger Menschen glaubwürdig. Denn der Öffentlichkeit wurden nie Beweise vorgelegt, dass die AfD wirklich faschistisch wäre – ist sie doch in Wahrheit eine eher libertäre Partei. Und das ist ziemlich das Gegenteil von Faschismus. Dieser ist eine Ideologie, die einen starken Staat haben will. Die AfD ist auch sicher keine Gefahr für die Demokratie. Sie ist nur eine Gefahr für die anderen Parteien, weil sie denen Stimmen wegnimmt. Diese "Faschismus"-Manie ist umso absurder, als Alice Weidel eigentlich viel seriöser und bürgerlicher wirkt als Kickl.
Aber der diesbezügliche Hang der Deutschen zur absurden Blödheit hat sich in diesen Stunden auch jenseits der schwachsinnigen Brandmauerei gezeigt. Und zwar gleich an zwei Beispielen:
- Da richtet schon wieder ein Afghane in einer deutschen Stadt schon wieder mit dem Auto ein Blutbad an; und was geschieht? Linke und Gewerkschaften demonstrieren gegen – "Faschismus" und "Rassismus"! Für wie blöd halten die eigentlich die Menschen?
- Und da lehnt es CDU-Chef Merz ausdrücklich ab, das zu wiederholen, was er schon einmal gemacht hat: die nach der nächsten Wahl mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende sichere Mehrheit von Union plus AfD auch zu nutzen, um all die Gesetze gegen die Migration durchzubringen, die er selber haben will. Unabhängig von der konkreten Bewertung dieser Vorhaben, unabhängig von der eigentlichen Koalitionsfrage, stellt sich Merz damit jedenfalls gegen die Mehrheit der Wähler, will die Mehrheit im Bundestag für diese Gesetze nicht zur Wirkung kommen lassen und bindet sich ohne Wenn und Aber an eine Koalition mit einer Linkspartei, also an eine der beiden Parteien, die noch mehr Schuld als Angela Merkel und die Höchstrichter an der Migrationskatastrophe haben.
Aber auch ÖVP und FPÖ wären gut beraten, wenn sie in den nächsten Tagen jene Dinge, über die sie schon Konsens erzielt haben, im Nationalrat beschließen. Sei es zum Bereich der Migration, sei es zum Bereich der Wirtschaft. Wenn etwas gut und sinnvoll ist, dann beschließt man es und wartet nicht auf Sankt Nimmerlein, ob es vielleicht doch eine Koalition gibt.
Da sie das aber nicht tun werden, bestätigt das nur noch einmal mehr: Für eine gute Zukunft Österreichs wäre der kollektive Rücktritt der Herren Babler, Kickl und des Nehammer-Klons Stocker das Wichtigste. Wie notwendig das wäre, hat ja inzwischen sogar die deutsche Qualitätszeitung "Welt" erkannt: Sie ruft laut und verzweifelt nach einer Rückkehr von Sebastian Kurz.